»Wer ist dort?« Samu versuchte, ihrer Stimme einen unerschrockenen, fordernden Klang zu geben, was kläglich mißlang. Es hörte sich mehr wie das heisere Krächzen eines Geiers an. Ihr Mund war staubtrocken.
»Ich, Batis«, ertönte es aus der Finsternis.
Der Priesterin schlug das Herz bis zum Hals. Der Leibwächter des Pharaos! Sollte Philippos mit seinen düsteren Prophezeiungen etwa recht behalten? War der Nubier gekommen, um sie auf Befehl des Neuen Osiris zu ermorden, weil ihre aufrührerischen Reden dem Pharao lästig geworden waren?
»Du mußt mir helfen, Priesterin.«
»Helfen?« Samu hatte sich halb auf ihrem Lager aufgerichtet und drückte sich ängstlich gegen die Wand. Sie traute dem Krieger nicht und überlegte fieberhaft, wie sie aus dem Zimmer entkommen könnte.
»Du bist die einzige . « Die Läden am Fenster des Zimmers klapperten leise. Von draußen kratzten Äste über das Holz.
»Er ist hier!« Batis’ Stimme verstieg sich in schrille Höhen, so daß er jetzt fast wie ein aufgeregter Eunuch klang. »Hörst du es auch?«
»Wer ist hier?« Die Priesterin versuchte vergeblich, den Nubier in der Finsternis auszumachen, bis sich plötzlich etwas Schweres auf ihre Kline niederließ. Ein unangenehmer, süßlicher Geruch lag jetzt in der Luft. Leichengeruch! Eisige Schauer jagten Samu den Rücken hinunter. Was geschah hier?
»Nur du kannst mir noch helfen, Priesterin«, wimmerte der Krieger leise. »Ich weiß nicht, wie ich ihm entkommen soll!«
»Wem, verdammt nochmal! Von wem sprichst du?« Langsam hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie erkannte die massige Gestalt des Nubiers. Batis beugte sich jetzt weiter zu ihr vor. Gleichzeitig wurde der Leichengeruch noch intensiver.
»Er«, flüsterte der Nubier leise, und die Priesterin spürte seinen warmen Atem auf ihrer Wange. »Der geflügelte Gott. Thanatos!«
Unter anderen Umständen hätte Samu die Furcht des Nubiers mit einer spöttischen Bemerkung abgetan. Warum hätten sich die Götter ausgerechnet für ihn interessieren sollen? Doch der süßliche Verwesungsgeruch, der schreckliche, nicht enden wollende Sturm ... Waren all das nicht deutliche Zeichen dafür, daß etwas Unfaßbares geschah? Vielleicht stand der Todesgott schon unmittelbar hinter dem Leibwächter des Pharaos? Kalter Schweiß perlte von ihrer Stirn. »Hast du den Gott gesehen?«
»Ich kann ihn hören. Sein Flügelschlagen. Es kommt immer näher. Lausch nur!«
Samu hielt den Atem an und öffnete sich ganz den tausend Geräuschen der Nacht. Dem schrillen Pfeifen des Windes, der durch den Säulengang vor ihrem Zimmer toste. Dem Klappern der Fensterläden. Dem Rauschen der Bäume. Ganz schwach war sogar die Meeresbrandung zu hören. Das Geräusch der Wellen, die sich in weißen Gischtwolken donnernd an den Klippen brachen. Flügelschlagen jedoch konnte sie nicht vernehmen. Doch was hieß das schon? Wenn Thanatos wirklich Batis verfolgte, warum sollte er sich dann gleichzeitig auch ihr offenbaren? »Was hast du getan?«
»Ich habe den Befehl des Gottes befolgt. Ich . ich konnte nicht anders«, stammelte der Nubier heiser. »Ich hatte Angst, ... doch ich mußte es tun. Er ist doch ein Gott.«
»Und dafür verfolgt dich Thanatos nun?« Samu begriff nicht, was der Krieger ihr sagen wollte. Hatte die Angst seinen Verstand verwirrt?
»Nicht Thanatos! Der Neue Osiris hat mir den Befehl gegeben, den Kopf des Mundschenks abzuschlagen. Ich sollte ihn wegschaffen und das Ganze so aussehen lassen, als habe es der Totengott mit dem Schwert getan. Begreifst du? Sie wollten, daß ich den Kopf verschwinden lasse, damit die Priesterinnen sich nicht davon überzeugen konnten, daß Artemis Buphagos getötet hat . , daß ihre Pfeile ihn durchbohrten, ohne auch nur eine Wunde zu hinterlassen. Aber ich konnte den Befehl des Gottes nicht zu Ende führen. Ich konnte den Kopf nicht ins Meer werfen. Ich habe im Mondlicht gesehen, wie mich die Augen des Toten vorwurfsvoll anstarrten. Buphagos hat mich verflucht, und jetzt verfolgt mich dieser geflügelte Gott.«
»Und was hast du mit dem Kopf getan? Wo ist er jetzt?«
»Hier.« Der Nubier drückte ihr etwas in die Hände. Klebriger Leinenstoff streifte ihre Finger. Eine neue Welle von Verwesungsgeruch schlug Samu entgegen. Mit einem spitzen Schrei schob sie das unaussprechliche Bündel zu Batis zurück. Fassungslos rang die Priesterin nach Worten.
»Du . du hast es die ganze Zeit aufgehoben?«
»Ich habe den Kopf in meinem Zimmer versteckt. Ich habe einen Sack darüber gestülpt, aber es nutzt nichts. Er verfolgt mich, und seine Augen sehen mich durch das Leinen hindurch an. Ich ... er will meinen Tod. Er hat den geflügelten Gott gerufen. Er ist immer in meiner Nähe.
Aber ich habe doch nicht anders gekonnt . Verstehst du? Mir hat ein Gott befohlen, mich an einem Gott zu vergehen! Was sollte ich tun? Ich habe das Bildnis des Flügelmannes mit Hundeblut beschmiert, damit es so aussah, als habe er Buphagos enthauptet und den Kopf des Mundschenks mit sich in sein Götterreich genommen. Ich hatte keine Wahl . Wie auch immer ich mich entschieden hätte, ich hätte auf jeden Fall einen der Götter beleidigt, und ich habe mein Leben dem Neuen Osiris geweiht. Ich mußte es tun ... Bitte, Samu, du mußt mich beschützen! Wenn ich mit meinem Leben für meine Taten bezahlen muß, so sei es. Es ist nicht der Tod, den ich fürchte. Es ist die ewige Finsternis. Der Flügelmann wird kommen und mich hinwegzerren in seine dunkle Geisterwelt. Ich . Du bist Priesterin. Hilf mir, dem zu entgehen. Du bist der einzige Mensch, der mich noch retten kann.«
Fassungslos hatte Samu der wirren Geschichte des Nubiers gelauscht. Sie war nicht sicher, ob der Krieger wirklich vom Totengott verfolgt wurde, doch murmelte sie vorsichtshalber leise eine Schutzformel und schlug mit der Linken ein Zeichen, das böse Geister abwehrte. Sie mußte an die Ereignisse in Italien denken. Daran, daß sie sich geschworen hatte, dem Nubier nie mehr zu helfen. Doch konnte sie es riskieren, ihn jetzt einfach hinauszuwerfen? Der Krieger war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Was würde geschehen, wenn sie ihn aus ihrem Zimmer vertrieb? Womöglich würde Batis durch irgendeine unbedachte Handlung den ganzen Hofstaat in Gefahr bringen. Nicht daß ihr soviel an Ptolemaios und seinen Speichelleckern gelegen war, doch Kleopatra galt es um jeden Preis zu schützen. Die junge Prinzessin war etwas Besonderes! Sie würde vielleicht einmal eine Herrscherin werden, wie Ägypten seit Jahrhunderten keine mehr gehabt hatte.
»Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, Batis. Doch du solltest wissen, daß ein langer, beschwerlicher Weg vor dir liegt. Du wirst dich von den Übeln reinigen müssen. Deine Taten haben dich besudelt. Es ist ein Schmutz, der nicht an deinem Körper haftet, von dem du dich reinigen mußt. Er zieht die bösen Geister an, die dich quälen. Du hast das Unsterbliche in dir besudelt. Ich kann dir nicht versprechen, daß ich dich vor dem Zorn eines fremden Gottes retten kann. Doch ich werde versuchen, was in meiner Macht steht. Zunächst einmal brauchen wir jetzt Licht.«
»Danke, Herrin. Ich hatte kaum zu hoffen gewagt .« Er versuchte, ihre Beine zu umklammern und ihr die Füße zu küssen, doch Samu entwand sich seiner Zudringlichkeit.
»Kannst du etwas sehen?«
»Kaum.«
»Neben meiner Kline steht ein kleiner Tisch. Dort findest du Feuerstein und Stahl. Es steht auch eine Öllampe auf dem Tisch. Entzünde sie. Ich werde mich inzwischen ankleiden.«
Samu stand auf und tastete sich mit vorgestreckten Armen durch das Zimmer. Hinter sich konnte sie Batis herumhantieren hören. Um in ihr Priesterinnengewand zu schlüpfen und es vor der Brust zu verknoten, brauchte sie kein Licht. Durch ihre jahrelange Übung fand sie sich blind zurecht.
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