«Was bringt Euch darauf?» fragte Fidelma, als sie ihr officium betraten.
«Immerhin war der Papyrus in ihrer Sprache beschrieben.»
«Und warum den Kelch?»
«Vielleicht wollte Ronan Ragallach ihnen Wighards Schatz verkaufen.»
Fidelma blieb stehen und sah ihn mit großen Augen an.
«Manchmal, Eadulf», flüsterte sie feierlich, «manchmal neigt Ihr zu Gedankensprüngen, wo andere nur mühsame Trippelschritte machen.»
Eadulf war sich nicht sicher, ob dies ein Lob oder ein Tadel war. Er wollte gerade eine genauere Erklärung verlangen, als die Tür aufging und Furi-us Licinius hereingestürmt kam.
Ehe sie ihn noch nach dem Grund für seine Aufregung fragen konnten, platzte Licinius heraus: «Ich war gerade am Haupttor, als Abt Puttoc eilig herausgelaufen kam. Er hat mich nicht erkannt.»
Licinius verzog das Gesicht. «Für einen Fremden sieht ein custos wahrscheinlich aus wie der andere.»
«Und was hat er dann getan?» drängte Fidelma ungeduldig.
Der junge Mann schluckte hastig. «Er hat sich eine lecticula gemietet. Ich dachte, Ihr würdet vielleicht gern erfahren, welches Ziel er den Trägern nannte.»
«Es ist jetzt nicht die Zeit für Ratespiele, Licinius», schimpfte Fidelma. «So redet doch endlich.»
«Abt Puttoc wollte in den Stadtteil gebracht werden, von dem ich Euch berichtet habe. Nach Marmorata. Dorthin, wo die arabischen Kaufleute sind.»
SCHWESTER FIDELMA KLAMMERTE SICH
an der Seite des kleinen Einspänners fest, den Furi-us Licinius mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die schmalen Straßen lenkte. Dabei scherte er sich nicht groß um die Fußgänger, die im letzten Augenblick aus dem Weg sprangen, mit geballten Fäusten hinter ihm herschimpften und einen Schwall von - für Fidelma glücklicherweise unverständlichen - Flüchen ausstießen. Auf der anderen Seite des Wagens hielt sich ein blasser und sehr unglücklicher Bruder Eadulf am Korbgeflecht fest. Seine Knöchel traten weiß hervor, während der Wagen über das Kopfsteinpflaster sprang.
Es war Fidelmas Einfall gewesen, Puttoc so rasch wie möglich zu folgen. Als sie von Furius Li-cinius erfahren hatte, daß der Abt sich ausgerechnet nach Marmorata bringen ließ, hatte sie unbedingt herausfinden wollen, was er im Schilde führte. Daß es die Gegend war, wo die arabischen Kaufleute ihre Unterkünfte hatten, ließ das Ganze höchst verdächtig erscheinen.
Weder Licinius noch Eadulf erhielten die Gelegenheit, irgendwelche Einwände vorzubringen, als sie im Laufschritt durch den Palast zum Haupttor rannte. Da sie aus Erfahrung wußte, wie flink die lecticula-Träger in den engen Straßen vorankamen, würde es sehr schwierig werden, Puttocs lecticula zu Fuß einzuholen. Daher wies sie den zunächst noch etwas widerstrebenden Licinius an, von einem seiner Kameraden einen Einspänner auszuleihen und mit ihr und Bruder Eadulf die Verfolgung aufzunehmen.
Es war eine atemberaubende Fahrt. Immer wieder fürchtete Fidelma, das holpernde Gefährt könnte sich überschlagen, aber Licinius hielt geschickt das Gleichgewicht und hatte beide Zügel fest in der Hand.
Sie fuhren am Fuß des Celius-Hügels entlang, überquerten die Valle Murcia mit ihrem großartigen Circus in Richtung Südwesten und fuhren dann den Aventinus, den südlichsten der sieben Hügel Roms, hinauf. Herrliche Häuser, die prunkvollen Villen römischer Adliger, säumten die Straßen.
Erstaunt betrachtete Fidelma die prächtigen Gebäude mit ihren üppigen Gärten.
«Ist das der richtige Weg?» rief sie Licinius zu. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß es unweit dieser gepflegten Gegend ein Elendsviertel gab.
Der tesserarius nickte und schnalzte mit den Zügeln, um das Pferd zu noch größeren Anstrengungen anzuspornen.
«Vermutlich werden Puttocs Träger den Weg über die Valle Murcia, vorbei am Circus Maximus nehmen», rief er über die Schulter zurück und deutete auf den nördlichen Abhang des Aventinus. «Wahrscheinlich umrunden sie den Hügel und halten sich am südlichen Tiberufer, weil das weniger beschwerlich ist. Von dort aus geht es direkt nach Marmorata. Ihr könnt es am Ufer liegen sehen, dort, wo die Schiffe ankern.»
Über die Kuppe des Aventinus fuhren sie direkt auf eine kleine, hübsche Basilika zu, wo Licinius die Pferde zügelte. Von der Basilika aus bot sich ihnen ein hervorragender Blick auf den Tiber, der sich gemächlich durch den Norden der Stadt, an deren westlicher Grenze entlang und schließlich in Richtung Süden schlängelte, um sich dann zwischen den beiden Hafenstädten Ostia und Porto ins Mittelmeer zu ergießen.
Licinius sprang vom Wagen und ging zu einer kleinen Mauer, hinter der das Gelände rasch zum Fluß hin abfiel.
«Irgendein Zeichen von Puttoc?» rief Eadulf, der sich vorsichtig aus seiner verkrampften Haltung löste und seine Glieder reckte.
Furius Licinius schüttelte den Kopf.
«Wir haben ihn doch hoffentlich nicht verpaßt?» fragte Fidelma besorgt und nutzte ebenfalls die Gelegenheit, Arme und Beine zu lockern.
«Nein. Es sei denn, Puttoc hat unterwegs sein Ziel geändert», antwortete Licinius. Fidelma sah sich um und betrachtete die kleine Basilika. Sie mußte zugeben, daß es in Rom viele hübsche kleine Kirchen gab. Und auch die herrliche Flora rings um die römischen Häuser, die knospenden Sträu-cher, duftenden Blumen und Büsche, die immergrünen Stechpalmenhaine und Lorbeerbäume und die hoch aufragenden Zypressen und die Trauerweiden rangen ihr immer wieder Bewunderung ab. Von allen Hügeln Roms schien der von der Sonne verwöhnte Aventinus jedoch der schönste zu sein. Über den großzügig angelegten Häusern und den prächtigen Denkmälern spannte sich ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel. In Fidelmas Augen verkörperte dieser Ort vollkommene Harmonie mit der Natur.
Furius Licinius stieß einen plötzlichen Schrei aus. «Da ist Puttocs lecticula ! Kommt, wir schneiden ihnen den Weg ab, ehe sie Marmorata erreichen.»
«Nein!» Fidelma hielt ihn zurück. «Puttoc soll nicht merken, daß wir ihm folgen.»
Licinius sah sie erstaunt an. «Warum nicht, Schwester?»
«Wir wollen ihn lieber unauffällig im Auge behalten und sehen, wohin er geht», antwortete Fidelma. «Wenn er sich mit den Arabern trifft, können wir die Falle immer noch zuschnappen lassen.»
Die Augen des jungen tesserarius leuchteten auf, als er Fidelmas Plan begriff, und er grinste zufrieden.
«Dann steigt ein. Wir werden ihm über den Hügel folgen und uns vorsichtig von hinten nähern, sobald sie die emporia, erreichen.»
«Emporia?» fragte Eadulf, während er mit sichtlichem Unbehagen in den Wagen kletterte.
«Ja. Das ist der große Marktplatz, um den herum sich Marmorata ausgebreitet hat. Allerdings werden die Geschäfte dort nur von Sklaven abgewickelt, denn anständige Leute lassen sich in dieser Gegend nicht gerne blicken», erklärte Licinius.
In einem gemächlichen Trab trottete das Pferd den südlichen Abhang des Aventinus hinab. Weiter unten konnten sie die stämmigen Träger mit der unverwechselbaren Gestalt Puttocs in Richtung Mar-morata laufen sehen. Der lange Weg durch die Stadt hatte die beiden Männer offenbar nicht ermüdet.
Allmählich veränderte sich die Gegend, und anstelle von stuckverzierten Steinhäusern waren mehr und mehr baufällige Holzhütten zu sehen. Die Umgebung wurde immer ärmlicher und trister, und Fidelma konnte kaum fassen, daß das dieselbe Stadt sein sollte, die sie noch vor wenigen Minuten bewundert hatte. Sie spürte, wie sich eine düstere, bedrohliche Stimmung über alles legte.
An einer Kreuzung hielt Licinius den Wagen an. Fidelma wollte ihn schon nach dem Grund fragen, als von rechts Puttocs lecticula in Sicht kam und die Träger an ihnen vorbeitrotteten.
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