DOMUS AETERNALIS
AURELIA RESTUTUS
DEUS CUM SPIRITUM
TUUM BASIN DEO
Das ewige Haus von
Aurelia Restutus
Gott sei mit deinem Geist
Mögest du leben in Gott
Fidelma seufzte erleichtert auf. Zumindest hatte sie das richtige Grabmal gefunden. Sie fragte sich, wer wohl Aurelia Restutus gewesen war und womit diese Frau sich ein so prächtiges Grabmal verdient hatte. In den Marmor waren Friedenstauben eingemeißelt, darüber befand sich das Chi-Ro-Symbol mit den griechischen Initialen Christi.
Sie stellte ihre Lampe ab und sah sich in der Grabkammer um. Von Ronan Ragallach war nichts zu hören oder zu sehen. Es mußte jetzt kurz nach Mittag sein, denn beim Hinabsteigen hatte sie in der Ferne das Läuten zum Mittagsangelus gehört. Doch sie ging davon aus, daß Ronan, selbst wenn sie sich verspätet hatte, eine ganze Weile auf sie warten würde.
Fidelma preßte die Lippen zusammen und unterdrückte ein ungeduldiges Seufzen. Auch wenn man in ihrer Ausbildung viel Wert auf Kontemplation gelegt hatte, konnte Fidelma untätiges Warten nur schwer ertragen. In dieser Hinsicht hatte sie sich nicht als vorbildliche Novizin erwiesen.
Es verstrichen einige Minuten, die Fidelma vorkamen wie eine Ewigkeit.
Zuerst war sie sich nicht ganz sicher, ob sie das Geräusch tatsächlich gehört hatte. Es war ein leises Poltern, das aus einer der hinter ihr liegenden Grabkammern zu ihr drang. Dann hörte sie etwas Schweres fallen.
Fidelma lauschte angestrengt. «Bruder Ronan?» rief sie leise. «Wo seid Ihr?»
Nachdem das Echo ihrer Stimme in dem dunklen Gewölbe verklungen war, herrschte unheimliches Schweigen.
Fidelma nahm ihre Lampe und drang vorsichtig in die nächste Kammer vor, die der vorigen in Form und Größe glich. Dahinter lag noch ein drittes Grabgewölbe, das sie mit erhobener Lampe betrat.
Schon auf den ersten Blick sah sie die zusammengesackte Gestalt am Boden liegen, das Gesicht nach unten, die Arme ausgestreckt, eine erloschene Kerze neben der linken Hand. Das grobe, braune Wollgewand war bis zu den Kniekehlen hochgerutscht und gab den Blick auf die mit Ledersandalen bekleideten Füße frei. Der Mann wirkte rundlich und schwer. Doch erst an der Tonsur Colum-bans erkannte Fidelma, daß es sich eindeutig um Bruder Ronan Ragallach handelte.
Rasch stellte sie die Lampe ab, bückte sich und drehte ihn um. Als ihr klar wurde, daß für ihn jede irdische Hilfe zu spät kam, mußte sie einen Schrek-kensschrei unterdrücken. Die gebrochenen Augen, das schwärzliche Gesicht und die herausgestreckte Zunge sagten alles. Die um seinen Hals geschlungene Gebetsschnur hatte sich tief ins Fleisch eingegraben.
Enttäuscht machte sich Fidelma klar, daß der Bruder ihr nichts mehr würde erklären können. Ronan Ragallach war tot.
Schaudernd sah sie sich um, denn sie wußte, daß sein Mörder noch nicht weit gekommen sein konnte. Hatte sie selbst nicht erst vor wenigen Augenblicken Ronan Ragallachs Todessturz gehört? Fidelma rang ihre Furcht nieder und nahm die Leiche genauer in Augenschein.
Ihr Blick fiel auf die rechte, noch immer zur Faust geballte Hand, die ein ausgefranstes Stück Sackleinen umklammerte. Es war nicht abgerissen, sondern mit einem Messer abgetrennt worden. Offenbar hatte Bruder Ronan etwas bei sich getragen, das er selbst im Todeskampf um keinen Preis herausgeben wollte.
Doch der Mörder war anscheinend so auf diesen Gegenstand erpicht gewesen, daß er ihn mit einem Messer losgeschnitten hatte. Als Fidelma kopfschüttelnd die Lampe hob, sah sie etwas Glitzerndes auf dem Boden liegen. Entschlossen ging sie darauf zu und hob es auf, und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.
Es war ein nicht sonderlich kunstfertig geschmiedeter Silberkelch, durch die unsanfte Behandlung leicht verbeult und zerkratzt. Fidelma wußte sofort, daß sie einen der fehlenden Kelche aus Wighards Schatz in Händen hielt. Aber was hatte das zu bedeuten? Tausende von Fragen fielen ihr ein - Fragen, aber keine Antworten.
Wenn Ronan Ragallach sich im Besitz des vermißten Schatzes befand, hatte er ihn womöglich doch gestohlen. Hatte sie sich geirrt? War er trotz allem der wahre Mörder? Allerdings stimmte da etwas nicht. Warum hätte er ihr eine Nachricht zukommen lassen, dieses Treffen vereinbaren und gleichzeitig schwören sollen, daß er an Wighards Tod unschuldig war?
Verwirrt wandte sich Fidelma wieder der Leiche zu und durchsuchte Bruder Ronans Kleider. In seiner crumena befanden sich einige Münzen und ein Stück Papyrus. Es war mit den gleichen seltsamen Hieroglyphen bedeckt wie der Fetzen, den sie auf dem Boden seines Zimmers in Biedas Herberge gefunden hatte.
Sie schnappte nach Luft, als sie erkannte, daß es sich um das abgerissene Teil eines größeren Papyrus handelte, der dem, den sie bereits gefunden hatte, in Form und Größe ähnelte. Vielleicht war dies der Rest des ursprünglichen Textes. Rasch ließ sie den Papyrus in ihr marsupium gleiten. Den Silberkelch in der einen, die Lampe in der anderen Hand, erhob sie sich und ging zurück zum Grabmal der Aurelia Restutus.
Kaum hatte sie die vordere Grabkammer betreten, hörte sie Stimmen näherkommen. Fidelma zögerte. Die Stimmen klangen leise und eindringlich. Und sie redeten in einer merkwürdigen, fremden Sprache.
Die Vernunft sagte Fidelma, daß diese Leute nichts mit Bruder Ronans Tod zu tun haben konnten, denn die Mörder des irischen Mönchs würden sicher nicht kurz darauf sorglosen Schrittes an den Tatort zurückkehren. Und doch mahnte eine unhörbare, innere Stimme sie zur Vorsicht. Rasch faßte sie einen Entschluß. Sie suchte nach einer leeren Nische, entschied sich für eine, die dem Erdboden möglichst nahe war, kletterte hinein, löschte die Lampe, streckte sich rücklings in dem leeren Grab aus und stellte sich tot.
Die Stimmen näherten sich.
Sie konnte zwei Männer unterscheiden. Ihrem hitzigen Tonfall nach zu urteilen, stritten sie, obwohl Fidelma nichts verstand. Sie sah ein Licht über die Wände der Katakomben tanzen. Mit halb geschlossenen Augenlidern lag sie da und betete inbrünstig, daß die beiden Männer die Leichen, die rechts und links in den Nischen der Grabkammer lagen, nicht beachteten.
Zu ihrem Entsetzen blieben die beiden dunklen Gestalten in der Kammer stehen und schauten sich mit erhobenen Kerzen um.
Fidelma hörte den Namen «Aurelia Restutus» und mehrmals das Wort kafir. Sie schienen zu warten. Fidelma biß sich auf die Lippen. Waren diese Fremden etwa ebenfalls mit Bruder Ronan Ragal-lach verabredet?
Nach einer Weile ging der Ungeduldigere der beiden weiter. Fidelma hielt den Atem an, denn sie wußte, was er in der nächsten Kammer finden würde. Sie vernahm einen schrillen Schrei und etwas, das wie «Bismillah!» klang. Dann eilte der zweite Mann seinem Gefährten zur Hilfe. « Ma’uzbillah!» rief er.
Sobald es in der vorderen Grabkammer dunkel war, schlüpfte Fidelma aus ihrer Nische, nahm Lampe und Kelch und lief hinaus auf den Gang. Die aufgeregten Stimmen der beiden Männer hinter sich noch deutlich im Ohr, wagte sie es nicht, stehenzubleiben und ihre Lampe anzuzünden, sondern tastete sich in der Dunkelheit eilig voran. In Gedanken wiederholte sie Antonios Anweisungen, diesmal in umgekehrter Reihenfolge. Die Lampe in der einen, den Kelch in der anderen Hand, stieg sie die Treppe hinauf. Nur einmal stieß sie sich das Knie an einem vorstehenden Stein.
Oben angekommen, hielt sie an, um Atem zu schöpfen, dann wandte sie sich nach rechts in den langen, schmalen Gang, der zur nächsten Treppe führte. Sie zählte zweihundert Schritte, bis er sich zu einer großen, reichverzierten Grabkammer verbreiterte. Wieder blieb sie stehen und lauschte angestrengt. Niemand war ihr gefolgt.
Fidelma kniete nieder und stellte Lampe und Kelch vor sich auf den Boden. Dann holte sie die Zunderbüchse aus ihrem marsupium. Ihre Finger zitterten, und es dauerte eine Weile, ehe es ihr gelang, die Lampe anzuzünden.
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