«Bruder Eadulf?» erkundigte sich Fidelma.
«Ja, genau. Er und Bruder Eadulf hätten vor, eine weitere Durchsuchung nach irgendwelchen fehlenden Gegenständen zu veranlassen . » Epiphania verzog das Gesicht. Ganz offensichtlich hatte sie etwas gegen geheimnisvolle Botschaften, die ihre Neugier nicht befriedigen konnten. «Ergibt das irgendeinen Sinn?»
Fidelma nickte. Es hätte sie überrascht, wenn die fehlenden Wertgegenstände noch irgendwo im Lateranpalast aufgetaucht wären. Sicher waren sie längst fortgeschafft worden.
Epiphania schlug sich an die Stirn. «Fast hätte ich es vergessen, Schwester. Für Euch ist auch ein Brief gekommen.»
«Für mich?» Fidelma war erstaunt. «Vom Lateranpalast?»
«Nein, ein kleiner Junge hat ihn schon bei Tagesanbruch vorbeigebracht.»
Epiphania holte ein zusammengefaltetes Stück Papyrus und reichte es ihr.
Erstaunt las Fidelma ihren in großen, lateinischen Buchstaben geschriebenen Namen auf der Außenseite. Sie entfaltete den Brief und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß er in Ogham, der alten, aus kurzen Strichen über einer festen Grundlinie bestehenden irischen Schrift geschrieben war. Mit der Verbreitung des lateinischen Alphabets im Zuge der christlichen Missionierung war die alte Schrift zunehmend in Vergessenheit geraten. Der Sage nach war sie den Iren in grauer Vorzeit von Ogma, dem alten heidnischen Gott der Literatur und der Beredsamkeit, gegeben worden. Weil manche ältere Geistliche, die Fidelma unterrichtet hatten, es noch für ihre Schriften benutzten, hatte Fidelma das irische Alphabet auf ganz natürliche Weise erlernt. Deshalb konnte sie auch ohne Mühe sehr, sehr frühe Texte lesen, wie zum Beispiel die uralten Dichterruten - ganze Sagas, die man auf Stäbe aus Eiben- und Haselholz geritzt hatte.
Neugierig überflog Fidelma den Brief. Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.
Schwester Fidelma,
ich habe Wighard nicht getötet. Ich glaube, Ihr wißt, daß dies die Wahrheit ist. Kommt zur Mittagsstunde in die Katakombe der Aurelia Restutus unter dem christlichen Friedhof vor dem Metronia-Tor. Und kommt allein. Ich werde Euch meine Geschichte erzählen, aber nur, wenn niemand bei Euch ist.
Ronan Ragallach, Euer Bruder im Herrn
Fidelma pfiff leise durch die Zähne.
«Schlechte Nachrichten?» fragte die übereifrige Epiphania und schaute ihr über die Schulter.
«Nein», antwortete Fidelma hastig und schob den Zettel in die Falten ihres Gewands. «Wie spät ist es?»
«Eine Stunde bis zum Mittag. Ihr habt lange und gut geschlafen.»
Fidelma stand auf. «Aber jetzt muß ich aufbrechen.»
Epiphania brachte sie bis zum Tor der Herberge. Mit raschen Schritten ging Schwester Fidelma die Via Merulana hinunter und nahm eine Abkürzung über den Campus Martialis zum Metronia-Tor. Zufrieden stellte sie fest, daß sie sich in der Stadt von Tag zu Tag besser zurechtfand. Sie vermutete, daß sich die Grabstätte der Aurelia Restutus in den Katakomben befand, die Eadulf ihr am Vortag gezeigt hatte, denn diese lagen unter dem einzigen christlichen Friedhof jenseits des Metronia-Tors.
Der Friedhof war um diese Zeit schon sehr bevölkert. Zahlreiche Menschen besichtigten die Grabstätten. Als Fidelma ein vertrautes Gesicht erkannte, blieb sie erschrocken stehen. Abt Puttoc sah sich um, als suche er jemanden in der Menge. Kaum einen Meter hinter ihm ging Bruder Eanred, ganz der ergebene Diener, der seinem Herrn nicht von der Seite wich.
Fidelma wollte dem eitlen Abt und seinem Diener auf keinen Fall begegnen. Daher senkte sie den Kopf und versteckte sich in einer kleinen, griechischen Pilgergruppe. Zuerst nahm sie an, Puttoc sei gekommen, um Wighards Grab zu besuchen und für ihn zu beten. Allerdings hatte Puttoc für Wig-hard im Tod sicherlich ebenso wenig Achtung wie zu dessen Lebzeiten. Offenbar waren Puttoc und Eanred zu einem anderen Teil des Friedhofs unterwegs, so daß Fidelma sich nach einer Weile unerkannt aus der Pilgergruppe lösen und in der Richtung weitergehen konnte, in die Bruder Eadulf sie am Vortag geführt hatte.
Am Eingang zu den Katakomben saß Antonio, der kleine Junge mit dem ernsten Gesicht, wieder hinter seinem Korb mit Kerzen. Lächelnd beugte sie sich zu ihm hinunter. Der Junge erkannte sie, verzog aber keine Miene.
«Hallo, Antonio», grüßte ihn Fidelma. «Ich brauche Kerzen und eine Wegbeschreibung.»
Schweigend wartete der Junge auf weitere Einzelheiten.
«Ich suche das Grabmal der Aurelia Restutus.»
Antonio räusperte sich und antwortete mit dem seltsam kehligen Tonfall eines Jungen, der sich im Stimmbruch befindet. «Seid Ihr allein, Schwester?»
Fidelma nickte.
«Im Augenblick sind nur wenige Leute in den Katakomben, und mein Großvater Salvatore ist auch nicht da, um Euch zu führen. Es ist gefährlich, wenn Ihr den Weg nicht kennt.»
Fidelma wußte die Besorgnis des Jungen zu schätzen, vor allem, wenn sie an ihr Abenteuer vom Vortag dachte.
«Ich muß alleine gehen. Kannst du mir sagen, wie ich das Grabmal finde?»
Der Junge sah sie zögernd an, dann zuckte er die Achseln. «Also, gut. Versucht, Euch meine Anweisungen ganz genau einzuprägen. Am Fuß der Treppe nehmt Ihr den Gang, der nach links führt, und folgt ihm etwa hundert Meter. Dann wendet Ihr Euch nach rechts und steigt die Stufen zum nächsttieferen Stockwerk hinab. Anschließend geht Ihr geradeaus an einem großen Grabmal mit einem Bildnis unseres Herrn vorbei. Zweihundert Meter von dort biegt Ihr links ab, bis Ihr zu einer weiteren Treppe kommt. Auf dieser gelangt Ihr zum Grabmal der Aurelia Restutus.»
Mit geschlossenen Augen wiederholte Fidelma Antonios Anweisungen. Der Junge nickte ernst.
«Diesmal nehme ich aber zwei Kerzen mit», sagte Fidelma grinsend.
Der Junge schüttelte den Kopf, holte eine kleine, mit Öl gefüllte Tonlampe und zündete sie an. «Nehmt die und zwei Kerzen, Schwester, dann seid Ihr doppelt abgesichert. Habt Ihr Zunder und Feuerstein dabei, falls Euch die Flamme ausgeht?»
Nach den Erlebnissen des Vortags hatte sich Fidelma für den Notfall mit einer Zunderbüchse ausgestattet. Sie klopfte auf ihr marsupium und nickte. Dann kramte sie einige Münzen heraus und warf sie lächelnd in seinen Korb. «In meiner Sprache, Antonio, sagen wir cabhair o Dhia agat. Gottes Fürsorge sei mit Dir!»
Sie war schon auf der Treppe zu den dunklen Gewölben, als der Junge ihr nachrief: «Benigne, di-cis, Schwester.»
Fidelma blieb stehen und winkte noch einmal zurück, ehe sie in der Dunkelheit verschwand.
Schon jetzt war sie froh über die Lampe in ihrer Hand und die zusätzlichen Kerzen in ihrem mar-supium.
Während sie immer tiefer ins Innere der weitläufigen Katakomben vordrang, wiederholte sie in Gedanken immer wieder Antonios Anweisungen. Ab und zu hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimmen anderer Besucher oder an diesem Ort unschickliches Gelächter, ohne jedoch auf ihrem Weg irgend jemandem zu begegnen. Ganz allein ging sie vorsichtig weiter, stieg in das nächsttiefere Stockwerk hinab und wandte sich nach rechts und links, wie der Junge es ihr beschrieben hatte.
Schließlich kam sie zu einer großen, in den Stein gehauenen, etwa drei Meter hohen und zwei Meter breiten Höhle, deren gewölbte Decke nicht aus Mauerwerk, sondern aus vulkanischem Gestein bestand. Auf beiden Seiten hatte man mehrere lo-culi oder Nischen für die Toten in den Tuff geschlagen. Sie waren unterschiedlich groß und zum Teil mit Marmorplatten mit gemalten oder eingravierten Inschriften und christlichen Emblemen verschlossen.
Mit erhobener Lampe studierte Fidelma die verschiedenen Platten, bis ihr Blick auf ein Grabmal fiel, das größer und prachtvoller verziert war als alle anderen. Die schlichte Inschrift war in lateinischen Buchstaben eingraviert:
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