«Ja. Meine Kammer lag der seinen sogar am nächsten, nämlich auf dem gleichen Flur gegenüber.»
«Und wer wohnte neben Wighard? Sein Diener Ine?»
«Nein. Die anderen Räume auf der Seite des Flurs stehen alle leer. Ich glaube, sie werden als Lager genutzt.»
«Wo war Ine dann?»
«In der Kammer gleich neben meiner, also schräg gegenüber von Wighard. Neben ihm waren Bruder Sebbi, dann Abt Puttoc und ganz an hinteren Ende des Flurs Bruder Eanred untergebracht.»
«Gut. Und wo hatten Äbtissin Wulfrun und Schwester Eafa ihre Unterkünfte?»
«Im Stockwerk darunter. Im zweiten Stock des domus hospitale.»
«Hm», sagte Fidelma. «Euer Zimmer lag dem Wighards also tatsächlich am nächsten?»
Eadulf lächelte spöttisch. «Ein Glück, daß ich ein hieb- und stichfestes Alibi habe und mit Euch in der Basilika der Heiligen Maria war.»
«Was ich jederzeit bezeugen kann», ergänzte Fidelma in gespieltem Ernst. Eadulf musterte sie mit einem fragenden Seitenblick, aber Fidelma verzog keine Miene. Nur in ihren Augen blitzte es schelmisch.
«Also gut.» Fidelma streckte sich. «Am besten gehen wir zurück zum Lateranpalast und beginnen damit, Eure Glaubensbrüder aus Kent zu befragen. Vielleicht ist es den custodes in der Zwischenzeit ja gelungen, Bruder Ronan einzufangen.» Sie schauderte. «Ich habe gar nicht bemerkt, wie kalt es hier unten ist.»
Eadulf drehte sich nach der Kerze um und stöhnte erschrocken auf.
«Wir sollten uns sputen, Schwester. Ich hatte keine Ahnung, daß die Kerze schon so weit heruntergebrannt ist.»
Erst jetzt sah auch Fidelma, daß das Wachs der Kerze fast völlig aufgezehrt war und die kümmerlichen Reste des Dochts bedenklich flackerten.
Eadulf nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her durch den gewundenen Gang mit seinen zahlreichen Abzweigungen. Dann erlosch mit einem leisen Zischen ihre Kerze. Um sie herum herrschte schlagartig Dunkelheit.
«Laßt auf keinen Fall meine Hand los», mahnte Eadulf mit rauher Stimme.
«Keine Sorge», versicherte ihm Fidelma mit aller Zuversicht, die sie in dieser Lage aufbringen konnte. «Wißt Ihr, wie wir zum Ausgang kommen?»
«Geradeaus ... glaube ich.»
«Dann laßt uns vorsichtig weitergehen.»
Nicht ein Fünkchen Licht drang in den von Menschenhand gemachten Tunnel, in dem sie sich langsam vorantasteten.
«Wie konnte ich nur so dumm sein», ärgerte sich Eadulf. «Ich hätte besser auf die Kerze achtgeben sollen.»
«Selbstvorwürfe helfen uns jetzt auch nicht weiter», sagte Fidelma. «Laßt uns ...»
Sie blieb plötzlich stehen und strich mit der freien Hand über die Wand.
«Was ist, Fidelma?»
«Der Gang gabelt sich. Links oder rechts ... welchen Weg müssen wir nehmen? Könnt Ihr Euch noch erinnern?»
Eadulf schloß die Augen. Seine Gedanken rasten, während er versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Er fühlte sich völlig hilflos, und als ihm klar wurde, daß er nicht die geringste Ahnung hatte, welche Richtung sie einschlagen mußten, ergriff ihn heftige Angst. Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Fidelma drückte seine Hand. «Seht doch!» flüsterte sie. «Dort links. Ich glaube, da ist ein Licht ...»
Angestrengt starrte Eadulf in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen.
«Ich bin mir ganz sicher, daß dort ein Licht war», hörte er Fidelmas gedämpfte Stimme. «Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick .»
Eadulf wollte sich schon enttäuscht abwenden, als er selbst ein kurz aufflackerndes Licht erspähte. War es Wirklichkeit oder nur ein Trugbild seiner Augen, die ihm vorgaukelten, was er zu sehen wünschte? Sehnsüchtig starrte er in die Dunkelheit. Nein, sie hatte recht! Dort war eindeutig ein Flakkern zu erkennen. Eadulf stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus.
«Ja, da ist Licht. Ihr habt recht! Kommt schnell!» Eilig zog er sie in der linken Abgabelung des Ganges hinter sich her und rief, so laut er konnte: «Hallo! Hallo!»
Zuerst herrschte nichts als Stille, dann erklang wie ein Echo eine barsche Stimme in der Ferne.
«Heia!»
Das Licht wurde deutlicher, und nach einer Weile sahen sie einen alten Mann mit einer Laterne auf sie zukommen.
Einige Schritte vor ihnen blieb er stehen.
«Heia vero!» Mit strenger Miene sah er von einem zum anderen.
Atemlos standen sie vor ihm. Sie fühlten sich wie Kinder, die von einem gütigen Elternteil bei einem albernen Streich erwischt worden waren. Eine Weile rangen sie nur erleichtert nach Luft, denn das rasche Laufen durch den unterirdischen Gang hatte ihnen den Atem zum Sprechen genommen. Kopfschüttelnd betrachtete sie der alte Mann und meinte ernst: «Der Junge sagte, Ihr wärt schon ziemlich lange hier unten und hättet nur eine Kerze mitgenommen. Es war dumm von Euch, so herumzutrödeln.»
«Wir haben nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verstrich», keuchte Eadulf, sobald er seine Stimme wiedergefunden hatte.
«Es sind schon genug Menschen durch eigenen Leichtsinn hier unten gestorben», grummelte der Alte. «Fühlt Ihr Euch stark genug, mir jetzt zu folgen? Dann werde ich Euch zurück zum Eingang bringen.»
Fidelma und Eadulf nickten verlegen. Der Alte ging mit erhobener Laterne voran und sagte über die Schulter gewandt:
«In den Katakomben haben schon viele ihr Leben gelassen. Tragische Todesfälle im Reich der Toten!» Er lachte rauh. «Das ist schon komisch, nicht wahr? Die Leute ziehen los, um sich die Gebeine der Heiligen und Märtyrer anzusehen, verirren sich und kommen selbst ums Leben. Andere werden wie Ihr von der Dunkelheit überrascht und finden deshalb nicht mehr zurück, es sei denn, sie haben Glück, wahres Glück! Wißt Ihr, wie weit die römischen Katakomben sich erstrecken würden, wenn man sie zu einem langen Tunnel vereinigte? Man hat ausgerechnet, daß ein solcher Tunnel fast sechshundert Meilen lang wäre. Sechshundert Meilen unter der Erde! Einige, die in den Katakomben verschwunden sind, blieben für immer verschollen. Vielleicht irren ihre Seelen noch immer hier unten umher, im Reich der Toten ...»
Voller Dankbarkeit erreichten sie die Stufen zum Mausoleum und traten blinzelnd hinaus ins helle Sonnenlicht.
Der kleine Junge hockte noch immer mit ausdruckslosem Gesicht vor seinen Kerzen.
Der alte Mann pustete seine Lampe aus und stellte sie neben dem Eingang zum Mausoleum ab. «Hätte der Junge mir nichts gesagt . » Er zuckte die Achseln.
Aus ihrem marsupium, der Geldtasche in den Falten ihres Gewandes, zog Fidelma eine Silbermünze hervor und reichte sie dem Jungen, der sie einsteckte, ohne dabei irgendeine Regung zu zeigen. Unterdessen hatte auch Eadulf eine Münze hervorgekramt und sie dem alten Mann angeboten, doch der schüttelte nur den Kopf.
«Die Münze für den Jungen reicht völlig aus», sagte er barsch. «Aber falls Ihr wollt, könnt Ihr das nächste Mal, wenn Ihr dort drüben in der prächtigen Kirche weilt», er zeigte auf die fernen Türme der Johannes-Basilika, «eine Kerze anzünden und ein Gebet für den Jungen sprechen.»
Fidelma sah ihn fragend an. «Ihr erbittet nichts für Euch selbst, alter Mann?»
«Der Junge hat Gebete nötiger als ich», grunzte der Alte abwehrend.
«Warum denn das?»
«Wenn meine Zeit gekommen ist, wird er auf dieser Welt ganz alleine sein. Ich bin alt, und meine Geschicke wurden in all den Jahren von einem gütigen Schicksal gelenkt. Aber der Vater des Jungen, der mein Sohn war, ist mir mit seiner Frau schon vorausgegangen. Der Junge hat niemanden, und vielleicht können Eure Gebete ihm ein besseres Leben bescheren, als dazu verdammt zu sein, tagein, tagaus hier zu hocken und fremden Pilgern Kerzen zu verkaufen.»
Aufmerksam musterte Fidelma das gleichmütige Gesicht des Jungen. Die ruhigen, leeren Augen erwiderten ihren Blick ohne jeden Ausdruck.
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