«Zumindest», lächelte Fidelma verschmitzt, «können wir Bischof Gelasius berichten, daß nicht alle Schätze aus Wighards Truhe spurlos verschwunden sind.»
Sie wollten gerade gehen, als plötzlich die Tür aufschwang und ein sichtlich erregter superista auf der Schwelle erschien. Sein Gesicht war dunkelrot, und er keuchte vom Laufen. Unruhig schoß sein Blick im Zimmer hin und her, bis er Schwester Fidelma entdeckte.
«Gerade habe ich aus dem Wachhaus gehört, daß Bruder Ronan Ragallach aus seiner Zelle ausgebrochen und nirgendwo zu finden ist. Unser Mörder ist spurlos verschwunden.»
DIE LETZTEN TÖNE DES GESANGS BRA-
chen sich an der großen Kuppeldecke der runden St.-Johannes-Basilika. Mächtige orientalische Granitsäulen ragten zu beiden Seiten des kurzen Mittelschiffs auf, darüber kündeten farbenfrohe Fresken von verschiedenen Szenen aus der Heiligen Schrift. Der Geruch von Weihrauch und Bienenwachskerzen lag schwer in der drückenden Luft. Kostbarer Marmor und grauer Granit prägten das Innere der prächtigen Kirche, deren Hochaltar von einem bunten Mosaik aus Halbedelsteinen umgeben war. Vom Hauptraum unter der großen Kuppel zweigten mehrere kleine Kapellen ab, deren Schlichtheit zu der Pracht des Hochaltars in einem seltsamen Gegensatz stand. Hier befanden sich auch einige der bemerkenswert bescheidenen Sarkophage mehrerer Heiliger Väter der römischen Kirche, wenngleich es mittlerweile Sitte war, ihre sterblichen Überreste nach Möglichkeit in der St.-Petrus-Basilika im Nordwesten der Stadt beizusetzen.
Vor dem glanzvollen Hochaltar lag Wighard, der in wenigen Tagen zum nächsten Erzbischof von Canterbury hätte geweiht werden sollen, in einem Holzsarg aufgebahrt. Ein Dutzend Bischöfe und deren Begleiter sowie zahlreiche Äbte und Äbtissinnen hatten auf der einen Seite Platz genommen, während auf der anderen Seite des Altars die sächsischen Schwestern und Brüder saßen, die dem Priester aus Kent zu dessen Ordination nach Rom gefolgt waren und nun Zeugen seiner Beisetzung wurden.
Schwester Fidelma hatte hinter Bruder Eadulf Platz genommen, der als Wighards scriba in einer der vorderen Reihen saß. Neben Eadulf thronte ein streng dreinblickender Abt, in dessen auffallend ebenmäßigen Gesichtszügen Fidelma etwas vermißte. Mitgefühl vielleicht? Der harte Zug um seine Lippen und der kalte Ausdruck seiner blassen Augen hatten etwas Herzloses. Sie fragte sich, wer dieser Abt war, der in der Trauergemeinde offenbar eine so herausragende Stellung einnahm. Sie würde Eadulf später danach fragen. Ihr fiel auf, daß der Mann von Zeit zu Zeit bedeutungsvolle Blicke mit Äbtissin Wulfrun wechselte, die mit herrischer Miene an seiner Seite saß. Links von ihr war Schwester Eafas geduckte Gestalt zu erkennen. An deren linker Seite hatten sich wiederum zwei weitere Glaubensbrüder aus Kent niedergelassen.
Von ihrem Platz aus hatte Fidelma einen guten Blick in das kurze, dunkle Mittelschiff der völlig überfüllten Basilika. Nach der Vielfalt ihrer Kleidung zu urteilen, hatten sich Gläubige der gesamten Christenheit in der großen Kirche versammelt. Fidelma wußte sehr wohl, daß es nicht in erster Linie die Totenmesse für den sächsischen Geistlichen war, welche die große Menschenmenge hierhergelockt hatte. Die rege Teilnahme ging vor allem darauf zurück, daß der Heilige Vater selbst für Wighards heimgegangene Seele die Messe las. Die Menschen waren gekommen, um Vitalian, den Inhaber des Heiligen Petrusstuhls, mit eigenen Augen zu sehen.
Fidelma blickte hinüber zum Hochaltar, wo der Bischof von Rom sich von seinem reichverzierten Thron erhob.
Vitalian, der sechsundsiebzigste Nachfolger Petri auf dem Thron des Apostels, war ein hochgewachsener Mann mit einer großen, aber flachen Nase und langem, schwarzem Haar, das unter dem phrygium, der hohen, weißen Amtsmütze des Papstes, hervorschaute. Seine dünnen Lippen hatten fast etwas Grausames, dachte Fidelma, und seine schwarzen Augen wirkten undurchdringlich. Obgleich unweit Rom, in Segni, geboren, hieß es, er sei griechischer Abstammung, betreibe - im Gegensatz zu seinen Vorgängern - die Wiederherstellung der religiösen Einheit und werbe bei den Patriarchen der östlichen Kirchen dafür, den zwei Jahrhunderten zuvor erfolgten Bruch mit Rom zu überwinden.
Während die Stimmen der Chorknaben verklangen, hob der Bischof von Rom die Hand und erteilte den Segen. Allgemeines Fußscharren war zu hören, als die riesige Trauergemeinde vor ihm niederkniete. Der mansionarius, der oberste Küster, übergab das Weihrauchfaß feierlich an einen Ministranten, der es rund um den Sarg kräftig schwenkte.
Anschließend brachten die Träger mit gebeugten Häuptern Wighards sterbliche Überreste zu dem vor der Basilika wartenden Wagen. Mit ihm sollte Wighard seine letzte Reise von der Basilika zum Metronia-Tor und von dort zum christlichen Friedhof am Fuße der von Kaiser Aurelian errichteten südlichen Stadtmauer antreten.
Der Bischof von Rom folgte dem Sarg als erster, doch ging dem Wagen eine Abordnung der custodes mit dem primicerius, dem päpstlichen Kanzler, und dessen Diakonen voraus. Hinter Seiner Heiligkeit schritt Gelasius als nomenclator gemeinsam mit den anderen beiden wichtigsten Würdenträgern, dem für den päpstlichen Haushalt zuständigen vestararius und dem sacellarius, dem päpstlichen Schatzmeister.
Hinter den Äbten und Bischöfen reihten sich unter der Führung eines dazu auserkorenen, wichtigtuerischen jungen Mönchs die anderen Trauernden in die feierliche Prozession ein.
Als der Leichenzug sich langsam von der Basilika aus in Bewegung setzte, begannen die Chorknaben mit kräftigen Stimmen zu singen:
Benedic nobis, Domine, et omnibusdonis Tuis ...
Segne uns, o Herr, und alle deine Gaben ...
Es hieß, Vitalian lege - wiederum im Gegensatz zu seinen Amtsvorgängern - viel Wert auf Musik während des Gottesdienstes.
Anders als die anderen Trauernden folgte Fidelma Wighards Sarg nicht mit gebeugtem Kopf. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich umzusehen, die Einzelheiten der Zeremonie zu beobachten und die Gesichter der anderen Prozessionsteilnehmer zu studieren. Vielleicht gehörte eines dieser feierlichen, ernsten Gesichter Wighards Mörder.
Wie sollte sie das deuten, was sie über Wighards gewaltsamen Tod in Erfahrung hatte bringen können? Offenbar war etwas faul an der Sache, auch wenn man Bruder Ronan Ragallachs merkwürdiges und verdächtiges Verhalten in Betracht zog. Ja, gerade dieses Verhalten ließ sie an seiner Schuld zweifeln. Kein Mörder würde soviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wie es der irische Bruder getan hatte. Und auch die genaueren Umstände von Wig-hards Tod sowie die fehlenden Wertgegenstände widersprachen der Erklärung, die Bischof Gelasius und superista Marinus für so einleuchtend hielten.
Während die Prozession im Schatten des Mons Caelius und der Ruine der tullianischen Stadtmauer langsam vorankam, stimmten die Chorknaben einen leisen, traurigen Klagegesang an:
Nos miseri homines et egeni
Wir armseligen Menschen und Bedürftigen ...
Durch die eindrucksvollen Portale des Metronia-Tors gelangten sie schließlich vor die Mauern der alten Stadt.
Der christliche Friedhof jenseits der aus dem dritten Jahrhundert stammenden, alle sieben Hügel umfassenden aurelianischen Mauer war erstaunlich groß. Überrascht betrachtete Fidelma die Vielfalt der Grabmäler, Grüften und Mausoleen.
Eadulf, der ihr Erstaunen bemerkte, löste sich aus dem Trauerzug. «Die alten römischen Gesetze verboten Beisetzungen innerhalb der von Servius Tullius, dem sechsten König von Rom, festgelegten Stadtgrenzen, und als die Bevölkerung wuchs, wurde diese Grenze noch einmal um eine Meile ausgeweitet. Deshalb werdet Ihr viele Friedhöfe, so wie diesen, außerhalb der Stadtmauern finden.»
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