Colla sah sie verwirrt an und trat einen Schritt vor, doch Ibor berührte ihn leicht mit der Schwertspitze am Arm und schüttelte den Kopf. Zugleich streckte er die Hand nach Orlas Dolch aus, den ihm Colla, ohne zu protestieren, übergab. Ibor machte ihm ein Zeichen, er solle sich wieder setzen.
»Kehren wir nun zu dem zurück, was sich als ein schwaches Glied in dieser schrecklich tragischen Kette erweisen sollte, zu Bruder Solin aus Armagh. Bruder Solin war ehrgeizig und verschlagen, ein würdiger Verschwörer in dieser Sache. Doch er hatte eine Schwäche. Kurz gesagt, er war ein geiler Bock. Er hat dir einen unsittlichen Antrag gemacht, nicht wahr, Orla?«
Die Frau des Tanist lief rot an.
»Ich kann mich selber wehren«, murmelte sie, »besonders gegen so einen Mann.«
»Das konntest du wirklich. Einmal hast du ihn geschlagen.«
»Ich habe es ihm gezeigt«, sagte Orla leise. »Er hat mich nicht berührt. Er machte nur einen unzüchtigen Vorschlag. Das hat er schnell bereut. Er hat seine Lektion gelernt.«
»Nein, das hat er nicht«, widersprach ihr Fidelma. »Er war ein unbelehrbarer Wüstling. Ihn verlangte es noch nach jemand anderem. Diese andere schlug ihn nicht nur, sondern schüttete ihm Wein ins Gesicht. Du erinnerst dich, Orla, daß ich dich fragte, ob du So-lin mit Wein begossen hättest?«
Orla blieb mißtrauisch.
»Ich sagte dir, nein, ich hab’s nicht getan.«
»Stimmt. Es gibt nämlich noch eine andere hübsche Frau im rath, nicht wahr, Murgal? Diese Frau besitzt übrigens eine gewisse Ähnlichkeit mit Orla und ist ebenfalls groß und eine imponierende Erscheinung.«
Der Druide bemühte sich, ihren Gedankengängen zu folgen.
»Du mußtest feststellen, daß sie für deine eigenen Bemühungen auch nicht empfänglich war, nicht wahr? Auf dem Fest schlug dir die Apothekerin Mar-ga ins Gesicht.«
Murgal blinzelte verlegen.
»Das hat ja jeder gesehen«, murmelte er gekränkt. »Weshalb sollte ich das leugnen? Aber ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
Fidelma wandte sich nun Marga zu. Im Gesicht der Apothekerin spiegelten sich die verschiedensten Emotionen wider.
»Bruder Solin hat dir nicht nur einen unzüchtigen Antrag gemacht - er kam in deine Wohnung und versuchte sich dir gewaltsam zu nähern.«
Marga hob trotzig das Kinn.
»Ich begoß ihn mit Wein, um seine Hitze abzukühlen. Ich schlug ihm ins Gesicht. Getötet habe ich den Mann nicht.«
»Aber er hat dir nachgestellt, Marga«, beharrte Fidelmaruhig. »Und das war der Grund, weshalb Bruder Solin ermordet wurde.«
Plötzlich herrschte eine Stille in der Halle, die nur vom schluchzenden Leugnen der Apothekerin unterbrochen wurde. Alle starrten Marga an. Cruinn eilte herbei und nahm sie in den Arm.
»Willst du damit sagen, daß Marga Solin umgebracht hat?« keuchte Murgal.
»Nein«, erwiderte Fidelma sofort. »Ich habe nur erklärt, daß Solins Angriff auf Marga das auslösende Moment für seine Ermordung war.«
»Behauptest du jetzt auch, daß es nicht Orla, sondern Marga war, die du am Pferdestall gesehen hast?« wollte Colla wissen.
Fidelma verneinte mit einem Kopfschütteln.
»Es war jemand, der genauso aussieht wie Orla, und das hat mich irregeführt. Die Gestalt trug einen Mantel mit Kapuze, so daß ich nur den oberen Teil des Gesichts sah, als das Licht darauf fiel.«
Sie schaute Laisre an.
»Erst als ich gestern abend den oberen Teil deines Gesichts über dem hölzernen Wandschirm bei genau derselben Beleuchtung sah, Laisre, begriff ich, welchem Irrtum ich verfallen war. Du warst es, Laisre von Gleann Geis, der aus dem Stall kam, und nicht deine Zwillingsschwester Orla.«
Laisre sackte in seinen Sessel zurück, als habe er einen Schlag erhalten. Mit offenem Mund starrte er entgeistert vor sich hin. Er schluckte schwer, und dann sank er in sich zusammen und streckte mit einer Geste die Hände aus, die halb verteidigend und halb kapitulierend wirkte.
»Ich leugne nicht, daß du mich gesehen hast«, gestand er leise zur hörbaren Verblüffung aller Anwesenden. »Ich bestreite aber, daß ich es war, der Solin aus Armagh getötet hat.«
Alle warteten auf das, was Fidelma nun sagen würde, doch sie stellte lediglich fest: »Ich weiß, daß du ihn nicht getötet hast. Selbst wenn Bruder Solin Marga vergewaltigt hätte, die du angeblich liebst, hättest du dich bemüht, ihn am Leben zu lassen, denn allein das hätte in deinem Interesse gelegen, nicht wahr?«
Laisre gab keine Antwort. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und starrte sie gebannt an wie ein Kaninchen den Fuchs einen Moment vor dem Ende.
»Du gingst in der Nacht in den Pferdestall, weil du mit Bruder Solin aus Armagh verabredet warst, stimmt das?«
»Ich wollte mich mit ihm treffen«, gestand Laisre leise.
»Aber jemand anders war vor dir da.«
»Ich betrat den Stall durch die Seitentür. Solin lag schon erstochen am Boden. Ich ging sofort weg, als mir klar wurde, daß er nicht mehr zu retten war. Ich gebe zu, daß du gesehen hast, wie ich den Stall verließ.«
»Irrtümlicherweise hielt ich dich für deine Zwillingsschwester, weil du so gut verhüllt warst, daß ich nur den oberen Teil deines Gesichts sah. Kein Wunder, daß du zornig wurdest, als ich Orla beschuldigte. Du selbst hattest allen Grund zur Angst, denn ich könnte ja meinen Irrtum erkennen. Diese Furcht lenkte meinen Verdacht auf dich, denn plötzlich begegnetest du mir statt mit Freundlichkeit mit Haß, und das fiel auf. Deine Besorgnis war so groß, daß du, als du von Rudgal erfuhrst, ich habe Eadulf als meinen Bre-hon benannt, einen losen Stein von den Zinnen des rath auf ihn hinuntergestoßen hast, während er unten entlangging. Gott sei Dank hat er ihn nicht erschlagen.«
»Du warst das also?« Eadulf schaute Laisre kurz an, ehe er Fidelma fragte. »Aber woher weißt du, daß Laisre das getan hat? Du warst doch nicht dabei?«
»Rudgal hat dir erzählt, wer sich in dem Moment oben auf der Mauer aufhielt. Sobald mir Laisres Rolle in der gesamten Angelegenheit klar wurde, begriff ich, daß er den Stein heruntergestoßen haben mußte. Leugnest du das, Laisre?«
Der schwieg.
»Möchtest du uns nun erklären, warum du dich in jener Nacht mit Bruder Solin im Stall treffen wolltest?«
Der Fürst von Gleann Geis saß da wie aus Stein gemeißelt.
»Dann werde ich das tun«, fuhr Fidelma fort, nachdem sie keine Antwort erhalten hatte. »Du und er, ihr wart gemeinsame Verschwörer oder Verbündete, wie du willst. Du warst es, der mit Mael Düin von Ailech im Bunde stand. Du hast die verräterische Botschaft auf Pergament aus Ailech an dich genommen und vernichtet. Stimmt das nicht?«
Laisre lachte, doch es klang etwas hohl.
»Behauptest du, ich würde mein eigenes Volk verraten? Ich würde es opfern, um persönliche Macht zu erringen?«
»Genau das behaupte ich. Es hat keinen Sinn, es abzustreiten. In der ersten Ratssitzung, in der du mit mir verhandeln solltest, fiel mir auf, daß du es warst, der entschieden hatte, einen Kleriker hierher einzuladen. Ich erfuhr, daß die Mehrheit des Rates gegen diese Entscheidung war, du hattest sie willkürlich getroffen. Warum wohl solltest du, der doch am alten Glauben festhielt und der, laut Christen wie Rudgal, sich hartnäckig weigerte, hier die Kirche anzuerkennen, plötzlich gegen den Willen deines Rates handeln und solch eine Einladung aussprechen? Jetzt wird die Antwort klar. Du mußtest die Einladung absenden, um sicherzustellen, daß ein Kleriker herkam und den Ritualmord sah. Kein anderer in Gleann Geis besaß genug Macht, eine solche Entscheidung zu treffen.
Es verwirrte mich, als ich erfuhr, daß du darin allein gegen Colla, Murgal, deine Schwester und andere Ratsmitglieder standest. Warum setztest du deine Stellung als Fürst aufs Spiel, indem du dich gegen ihren Willen im Rat stelltest? Weil du den Blick bereits auf eine andere Macht gerichtet hattest. Mael Düin hatte dir offensichtlich Größeres als das Fürstentum von Gleann Geis versprochen.«
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