Fidelma schien das unglaublich. Doch hinter dem, was Ibor sagte, steckte eine finstere Logik.
»All das hätte leicht passieren können«, murmelte sie.
Sie brauchte Eadulf nicht anzusehen, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Er senkte betreten den Kopf in Erinnerung an das, was er ihr geraten hatte, als sie die Leichen entdeckten und die symbolische Bedeutung des Massakers begriffen. Er spürte wachsendes Entsetzen.
»Habe ich dich richtig verstanden?« fragte er Ibor. »Die dreiunddreißig jungen Männer wurden zu keinem anderen Zweck niedergemacht als zu dem, uns zu beeindrucken? Es wurde ein groteskes Schauspiel arrangiert mit dem Ziel, uns in Panik nach Cashel zurückzujagen und zu einem heiligen Krieg gegen die Heiden von Gleann Geis aufrufen zu lassen?«
Ibor betrachtete den Angelsachsen mit ernstem Spott.
»Das ist genau das, was ich erläutert habe.«
»Und diese Söhne Satans haben uns die ganze Zeit beobachtet«, murmelte Eadulf nachdenklich. »Erinnerst du dich«, wandte er sich an Fidelma, »daß wir das Sonnenlicht auf Metall aufblitzen sahen, als wir zu diesem Tal aufstiegen? Wir wurden belauert. Sie müssen unser Näherkommen verfolgt und gewußt haben, welchen Weg wir nach Gleann Geis einschlugen, so daß sie ihre grausige Darbietung dort vollführen konnten, wo wir mit Sicherheit darauf stoßen mußten.«
Ibor von Muirthemne lächelte Fidelma düster an.
»Ein Krieg, wie sie ihn planten, hätte leicht ausbrechen können, wenn du so reagiert hättest, wie sie es erwarteten. Doch, Gott sei Dank, das tatest du nicht. Du bewahrtest einen kühlen Kopf und gingst nach Gleann Geis, um die Wahrheit zu suchen.«
Es trat Schweigen ein, während sie bedachten, welch eine plötzliche Wendung des Schicksals den erhofften Erfolg des sorgfältig geplanten Komplotts verhindert hatte.
»Sechnassach sagte mir einmal, du seist eine Individualistin, Fidelma«, fuhr Ibor anerkennend fort. »Er behauptete, du lehntest dich auf gegen die herkömmliche Weise, Dinge zu tun.«
»Es war ein gut durchdachtes Komplott«, gab sie zu. »Aber, Ibor, du hast uns noch nicht gesagt, wer die jungen Männer ermordet hat?«
Ibor antwortete ohne Zögern.
»Krieger aus Ailech. Ausgesuchte Männer aus Mael Düins Leibgarde, die ihm und niemand anderem Treue geschworen haben.«
»Hast du das Abschlachten beobachtet?« fragte Ea-dulf.
»Nein, wir haben es nicht gesehen, sonst hätten wir unser Bestes getan, es zu verhindern«, erwiderte Ibor ruhig.
»Woher weißt du dann, daß es Männer aus Ailech waren, die die Untat begangen haben?« forschte Ea-dulf.
»Ganz einfach. Unsere kleine Schar, es sind zwanzig Krieger und ich selbst, folgte Bruder Solin und Bruder Dianach. Wir wußten, daß sie uns zum Kern von Mael Düins Komplott führen würden. Von Armagh ritten wir ihnen auf ihrem Wege nach Süden viele Tage nach. Dann traf sich Bruder Solin mit einer seltsamen Reitertruppe. Es war eine Schar von Kriegern aus Ailech. Sie geleiteten einen Zug von Gefangenen. Jeder von denen war ...«
»Mit Beinschellen gefesselt?« unterbrach ihn Fidelma.
»Woher weißt du das?« fragte Ibor. »Ich sah die Leichen; die Männer aus Ailech hatten alle Erkennungsmerkmale entfernt: Beinschellen, Kleidung, alles, was die Täter verraten könnte.«
»Ich bemerkte die Abschürfungen und Narben, die die Beinschellen an den Fußgelenken der Opfer hinterlassen hatten. Mir fiel auch auf, daß ihre Fußsohlen mit Blasen und Schürfwunden bedeckt waren. Daraus schloß ich, daß man die Männer gezwungen hatte, eine lange Strecke zu Fuß zurückzulegen.«
Diese Schlußfolgerung schien den Lord von Mu-irthemne nicht zu überraschen.
»Sie waren tatsächlich den ganzen Weg von Ailech her marschiert. Möge dieser Ort verflucht sein. Es müssen spezielle Gefangene gewesen sein, die der Tyrann Mael Düin zusammengetrieben und allein zum Zweck dieses schrecklichen Verbrechens nach Süden geschickt hat. Bei den Reitern befanden sich auch Leute zu Fuß, die mehrere große Hunde führten, wahrscheinlich, um jedes Entkommen zu verhindern. Eine interessante Einzelheit, die mich damals verwunderte, war, daß der seltsame Zug zwei leere Wagen mit sich führte, große Heuwagen.«
»Ach ja.« Fidelma nickte. »Die Wagen. Die mußten ja auch dabei sein. Was geschah bei diesem Zusammentreffen, das du beobachtet hast?«
»Bruder Solin und der Befehlshaber der Krieger aus Ailech begrüßten sich freundlich, und sie lagerten einen Tag zusammen, ehe Solin mit Bruder Dianach weiterreiste .«
»Hast du den Befehlshaber der Krieger erkannt?« unterbrach ihn Eadulf.
»Mit Namen kenne ich ihn nicht, aber er ist sicher im Umkreis von Mael Düin zu finden. Über eine Person bei diesen Kriegern kann ich mehr sagen .«
Er hielt inne, wie um die Spannung zu erhöhen, doch als er Fidelmas Verärgerung spürte, fuhr er eilig fort.
»Es war eine Frau, die in ihr Lager geritten kam. Sie wurde offensichtlich erwartet und höflich begrüßt. Eine solche Frau habe ich in Gleann Geis gesehen. Eine schlanke Frau mit gebieterischer Haltung.«
Fidelma hob den Kopf und lächelte befriedigt.
»War es Orla, Laisres Schwester?«
»Mir fällt keine andere Frau in Gleann Geis ein, die der Person ähnelt, die ich sah, als sie sich mit den Männern aus Ailech und mit Bruder Solin traf«, antwortete Ibor ernst.
»Orla!« seufzte Fidelma befriedigt. »Ich war sicher, daß sie es war, die ich aus dem Pferdestall kommen sah.«
»Ich möchte aber ganz korrekt sein«, fügte Ibor rasch hinzu. »Ich könnte nicht beschwören, daß es Orla war, die sich mit Solin und den Männern von Ai-lech traf. Wir beobachteten die Szene aus der Ferne, vergiß das nicht. Zu der Zeit kannte ich Orla noch nicht. Doch ich bin niemand anderem in Gleann Geis begegnet, der solche Kleidung trug und solche Befehlsgewalt ausübte wie die Frau, die ich gesehen habe. Einen interessanten Vorfall kann ich noch berichten. Während des Treffens gab es eine Störung. Anscheinend war es einem der Gefangenen gelungen zu fliehen. Die Männer mit den Hunden machten sich an die Verfolgung, und die Frau sprach mit ihrem Anführer. Sie verlangte anscheinend, selbst die Jagd zu übernehmen, denn gleich darauf ritt sie mit drei Jägern und ihren Hunden fort.«
»Habt ihr versucht, den entflohenen Gefangenen zu retten?« fragte Eadulf.
Ibor zuckte resigniert die Achseln.
»Das war unmöglich, ohne unsere Anwesenheit zu verraten. Innerhalb einer Stunde wurde er wieder eingeholt und zurückgebracht. Erst da merkten wir, daß es sich um einen Priester handelte, denn er trug eine Tonsur. Das mögliche Geschick der Gefesselten kam mir damals nicht in den Sinn, sonst hätten wir versucht, sie alle zu befreien. Mir ging es mehr darum, Solin zu verfolgen, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich sie ihrem Schicksal überließ, ohne zu ahnen, welch ein Verbrechen später an ihnen begangen werden würde.«
»Tatsächlich hätte niemand vermuten können, was für ein schreckliches Morden stattfinden würde«, versicherte ihm Fidelma. »Dich trifft keine Schuld. Was habt ihr dann weiter getan?«
»Es hat nicht lange gedauert, bis sie den armen Gefangenen aufgespürt hatten. Nachdem die Frau wieder im Lager war, redete sie noch eine Weile mit den Kriegern dort und ritt dann mit Bruder Solin und Bruder Dianach und zwei Kriegern aus Ailech los in Richtung Gleann Geis. Bruder Solin und Bruder Dia-nach bogen direkt in die Schlucht ein, die Frau aber nicht. Mit den zwei Kriegern aus Ailech durchquerte sie das Tal bis zu der Stelle, an der später die Leichen niedergelegt wurden. Es könnte sein, daß die Frau den Kriegern den Ort gezeigt hat. Die Krieger kehrten zu ihrer Truppe zurück, und die Frau verschwand in den Bergen.«
»Das ist schade«, sagte Fidelma seufzend.
Читать дальше