»Es ist der einzige Ort, der mir bisher aufgefallen ist, an dem uns keiner belauschen kann«, meinte Fidelmaund sah sich um. »Den sollten wir uns merken, wenn wir uns mal ungestört unterhalten wollen.«
Sie standen an einer offenen Stelle der Mauer, weit weg von dem Wachposten über dem Tor.
»Beunruhigt dich denn etwas, weshalb du einen solchen Platz suchst?« erkundigte sich Eadulf.
»Ein paar Dinge beunruhigen mich«, gab Fidelma zu. »Vergiß nicht, daß das Rätsel der dreiunddreißig Leichen noch gelöst werden muß.«
»Du traust also Colla nicht zu, daß er wirkliche Beweise für das Morden mitbringt?«
»Das ist doch völlig klar«, erwiderte sie spitz. »Vielleicht hat Laisre einen triftigen Grund, uns hier zu behalten, aber ich habe das Gefühl, daß er uns nicht weiter nachforschen lassen will. Ich habe den Eindruck, man treibt ein Spiel mit uns. Warum läßt man uns untätig herumsitzen und kostbare Zeit vergeuden, in der wir den Zweck unserer Reise hierher recht gut erfüllen könnten?«
»Nun, wir können wenig tun, denn Laisre hat den Termin der Verhandlungen schon festgesetzt. Zu der Zeit ist Colla bereits unterwegs.«
Fidelma hob eine Schulter und ließ sie ausdrucksvoll wieder sinken.
»Ich fürchte, der Bericht, den er erstattet, wird uns wenig neue Erkenntnisse bringen. Aber etwas Näherliegendes macht mich besorgt, nämlich die Anwesenheit dieses Geistlichen aus Armagh. Es ist seltsam, daß er gerade jetzt hier auftaucht. Und wo sind er und sein junger Schreiber in diesem Moment? Bespricht er etwas mit Laisre, was ich nicht erfahren soll, und wenn ja, was?«
»Aber seine Anwesenheit kann doch keine schlimme Bedeutung haben?« Eadulf war überrascht von ihrem Verdacht.
»Natürlich kann sie das«, erwiderte Fidelma ernst. »Dies ist eine abgelegene Gemeinschaft, die normalerweise die Vertreter des Glaubens abweist. Doch jetzt lassen sie nicht nur eine Gesandtschaft von Im-leach kommen, dem Hauptzentrum des Glaubens in Muman, sondern wir treffen hier auch einen Geistlichen aus Armagh an. Keinen einfachen Geistlichen, sondern den Sekretär Ultans von Armagh. Du weißt, daß Armagh das Hauptzentrum des Glaubens in Ulaidh ist. Vor dreißig Jahren erbat sich Cummian, der damals dort Bischof war, den Segen Roms dafür, daß er sich Erzbischof und oberster Bischof aller fünf Königreiche nennen dürfe. Imleach erkennt dieses Amt nicht an. Es stimmt zwar, daß Ultan als Comarb, also Nachfolger, Patricks anerkannt wird, aber hier hat Armagh keine Rechte. Und dieser Bruder Solin gefällt mir gar nicht. Wir müssen auf der Hut sein, denn ich fürchte, hier ist etwas nicht in Ordnung.«
Ihre Auffassung setzte Eadulf in Erstaunen, aber er stimmte ihr darin zu, daß Bruder Solin kein liebenswerter Mensch war.
»Er ist kein angenehmer Zeitgenosse. Er ist hinterhältig.«
»Hinterhältig? Inwiefern?« fragte Fidelma rasch. »Hast du deine Gründe, das zu sagen?«
»Er sprach im Ratssaal mit mir, während du mit Laisre beschäftigt warst.«
»Das habe ich bemerkt. Ich sah, wie du dich von ihm entferntest, als habe er dich beleidigt.«
Eadulf kannte Fidelma zu gut, um sich zu ihrer scharfen Beobachtung zu äußern.
»Er versuchte, mich zu überzeugen, daß ich mich an Armagh als die höchste Autorität des Glaubens in den fünf Königreichen zu halten habe, und meinte, er und ich seien brüderlich verbunden durch die Tatsache, daß wir beide die Tonsur des heiligen Petrus von Rom tragen.«
Fidelma kicherte leise.
»Und was hast du dazu gesagt?«
»Nicht viel. Ich dachte, ich lasse ihn reden, damit ich erfahre, worauf er hinaus will. Es lag ihm viel daran, mich dahin zu bringen, daß ich Ultan von Armagh als den obersten Bischof von ganz Irland anerkenne.«
»Wie ich schon sagte, ist Armagh nicht allen übergeordnet, wenn auch sein Bischof sich den Titel >Erz-bischof< beigelegt hat. Der Titel, den unser Volk dem Bischof von Armagh zuerkennt, lautet Comarb von Patrick, das heißt Nachfolger Patricks, so wie der Bischof von Imleach den Titel Comarb von Ailbe führt. Armagh und Imleach haben den gleichen Rang unter den Zentren des Glaubens in diesem Land.«
»Bruder Solin ist anscheinend nicht dieser Meinung. Er hat mir erklärt, daß jeder, der die römische Tonsur trägt, keine Gemeinschaft mit denen halten sollte, die die Autorität von Armagh nicht anerkennen.«
Fidelma ärgerte sich.
»Ich weiß, daß Ultan einen Ehrgeiz für seine paru-chia hegt, aber das ist blanker Unsinn. Was hast du darauf geantwortet?«
Eadulf schob das Kinn vor.
»Ich habe mich beherrscht und ihm nicht gesagt, was ich darüber denke. Ich habe nur darauf hingewiesen, daß mich Erzbischof Theodor von Canterbury als Gesandten an den Hof Colgüs von Cashel geschickt hat und zu keinem anderen König oder Bischof in den fünf Königreichen.«
Fidelma lächelte kurz.
»Und wie hat Bruder Solin darauf reagiert?«
»Er blies die Backen auf wie ein Fisch und lief vor Zorn rot an. Dann trat ich von ihm weg, und damit endete das Gespräch.«
»Trotzdem ist es seltsam, daß er gedacht hat, er könnte auf diese Weise mit dir reden«, überlegte sie.
Eadulf errötete leicht.
»Ich nehme an, er wollte uns trennen«, gestand er.
»Wie meinst du das?«
»Ich glaube, er weiß nicht, daß wir alte Freunde sind, und dachte, ich reiste lediglich mit dir zusammen. Ich vermute, er wollte dich in deiner Mission hier isolieren.«
»Zu welchem Zweck?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich glaube, er wollte mich warnen, daß es für mich besser wäre, wenn ich allein weiterreiste als mit dir zusammen.«
»Hat er dir gedroht?« fragte Fidelma.
»Ich meine nicht, daß es eine Drohung war - nicht ganz.«
»Was war es dann - genau?«
»Er sprach in Andeutungen, so daß ich seine wirkliche Meinung nicht ergründen konnte. Ich weiß nur, daß er dir nicht wohl will.«
»Dann werden wir also Bruder Solin gründlich beobachten. Wir müssen herausbekommen, was er vorhat.«
»Daß er etwas vorhat, daran gibt es keinen Zweifel, Fidelma«, versicherte Eadulf.
Nach kurzem Schweigen sagte Fidelma: »Das Fest heute abend wird eine förmliche Angelegenheit, habe ich gehört. Du weißt, daß es dabei eine Rangfolge der Plätze gibt?«
»Ich bin lange genug in Eireann, um das zu wissen«, bekannte er.
»Sehr gut. Ich werde bei Laisre und seinen nächsten Verwandten sitzen, aus dem einfachen Grunde, weil ich die Schwester des Königs von Cashel bin. Ich nehme an, Bruder Solin wird bei den ollamhs und den Gelehrten wie Murgal sitzen. Du findest deinen Platz wahrscheinlich am selben Tisch wie Bruder Solins junger Schreiber, Bruder Dianach. Der ist nicht nur jung, sondern auch naiv. Versuche, aus ihm etwas über die Vorhaben seines Herrn und Meisters herauszuholen. Mir ginge es besser, wenn ich genau wüßte, was Solin in Gleann Geis sucht.«
»Ich werde tun, was ich kann, Fidelma. Überlaß das mir.«
Fidelma schwieg nachdenklich.
»Ich dachte erst, diese Verhandlung wäre eine einfache Sache, Eadulf. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Hier spielt sich etwas Seltsames ab, etwas unter der Oberfläche, was wir ergründen müssen. Ich spüre das.«
Ein Räuspern unterbrach sie. In ihr Gespräch vertieft, hatten sie nicht bemerkt, daß sich ein blonder Krieger ihnen genähert hatte. Der Mann stand in ein paar Metern Entfernung und betrachtete sie forschend. Es war derselbe Krieger, der Orla am Tor der Burg begrüßt hatte.
»Ich sah dich und den Bruder hier stehen, Schwester, und fragte mich, ob ihr etwas braucht?« sprach er sie an.
»Nein, wir genießen nur die Abendluft vor dem Fest«, erklärte Eadulf.
Fidelma musterte den Krieger interessiert. Er wirkte kräftig, das blonde Haar hatte die Farbe reifen Korns, und seine Augen waren hellblau. Er war Anfang dreißig. Sein altmodischer langer Schnurrbart, der neben dem Mund bis fast zum Kinn reichte, ließ ihn älter erscheinen. Er hielt sich sehr gut.
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