»Nichts weiter als Kleidung«, sagte Eadulf enttäuscht.
»Das alles hilft uns nicht weiter. Aber das Wappen der Ui Fidgente, das spricht Bände«, stellte Donn-dubhain fest. »Das reicht uns eigentlich.«
Fidelma langte nach dem Beutel, schaute hinein und fühlte mit der Hand darin nach. Dann gab sie ihn zurück.
»Du hast recht.«
Sie verließen den Stall und gingen langsam zur Hoftür zurück. Bei Donndubhains Pferd blieben sie stehen.
»Nun, ich werde der Wache Bescheid geben, daß hier ein Mord geschehen ist«, sagte Donndubhain und band sein Pferd los. »Wollt ihr hier warten, bis ich die Wache schicke, und mit mir zusammen zum Palast zurückkehren?«
»Nein«, erwiderte Fidelma. »Wir machen uns allein auf den Weg. Es ist ja nicht weit. Sei unbesorgt, Donndubhain, wir kommen schon heil hin.«
Sie sahen zu, wie er aufsaß und ins Dunkel davonritt, dann gingen sie langsam durch das Haus zur Hauptstraße zurück. Ab und zu tauchte noch eine Gestalt auf, ein später Zecher, der aus dem Wirtshaus nach Hause schlich. Niemand belästigte sie, als sie auf die hohen Mauern des Palasts zuschritten.
»Nun«, meinte Eadulf, »die Pferde beweisen endgültig, daß Samradan an dem Attentatsversuch beteiligt war. Sie müssen seitdem dort gestanden haben.«
»Nein. Sie standen kaum eine halbe Stunde da«, widersprach ihm Fidelma mit Bestimmtheit. »Ihr Fell war noch feucht von dem raschen Weg aus ihrem Versteck dorthin.«
Eadulf machte große Augen. Er staunte noch mehr, als Fidelma leise zu lachen begann. Sie blieb unter der Lampe eines Gasthauses stehen und hielt ihm etwas hin.
Er sah es sich genau an. Es war eine winzige Silbermünze.
»Die habe ich in dem Lederbeutel gefunden. Man hatte sie übersehen.«
»Was ist denn das?« fragte Eadulf.
»Eine Münze aus Ailech, der Hauptstadt der Ui-Neill-Könige im Norden. Sie heißt piss.«
»Und was bedeutet das?«
»Mein lieber Eadulf« - solche Zufriedenheit in ihrer Stimme hatte er seit Tagen nicht gehört -, »heute abend ist mir ein Licht aufgegangen. Mein Lehrer, der Brehon Morann, sagte einmal, wenn du das Unmögliche ausschließt, dann muß das, was bleibt, und wenn es noch so unwahrscheinlich ist, die Antwort sein. Jetzt weiß ich, wer hinter dem Attentat und der Verschwörung steckt. Trotz aller Versuche, mich in die Irre und auf falsche Fährten zu führen, die mich, zugegeben, bis heute abend verwirrt haben, habe ich jetzt den Fuchs erspäht!«
Die Große Halle von Cashel war gedrängt voll, als Fi-delma und Eadulf eintraten. Jedermann war festlich gekleidet. Selbst Eadulf hatte seine beste Kutte angelegt und trug den Pilgerstab bei sich, mit dem er nun seinen Status hervorhob. Diese Eigenheit gönnte er sich.
Eadulf lächelte Fidelma zu, als er sich abwandte und den Plätzen zustrebte, die den bloßen Beobachtern vorbehalten waren. Dem korrekten Verfahren wurde an irischen Gerichtshöfen große Bedeutung beigemessen, und Eadulf hatte inzwischen Einblick in vieles erlangt, was ihm früher ein Rätsel gewesen war.
Fidelma ging zur Mitte der Halle und nahm ihren Platz neben Solam ein, dem dalaigh der Ui Fidgente. Dieser saß neben Donennach, seinem Fürsten. Die streitenden Parteien saßen immer mit ihren Anwälten im airecht airnaide, dem Hof des Wartens.
Ihnen gerade gegenüber standen drei Stühle hinter einem langen, niedrigen Tisch, auf dem verschiedene Gesetzbücher lagen. Diese Stühle waren für die Bre-hons oder Richter reserviert. Sie bildeten den airecht , den Gerichtshof. Hinter den Stühlen der Richter hatte auf einem Podium an der Schmalseite der Halle Colgü in seinem reich verzierten Amtssessel Platz genommen. Rechts von ihm saß Segdae, nicht als Abt, sondern als Bischof und Comarb von Ailbe, dem ersten Apostel des Glaubens in Muman. Zu seiner Linken saß Colgüs ollamh Cerball, sein oberster Barde und Ratgeber. Diese drei, die Männer von höchstem Rang im Königreich, galten als der cül-airecht, der rückwärtige Gerichtshof, der darüber wachte, daß Recht gesprochen wurde.
Zur Rechten des Königsstuhls standen Bänke für den tdeb-airecht oder Seitenhof, der aus den Schreibern und den Historikern bestand, die alle Vorgänge festzuhalten hatten, sowie den Kleinkönigen und Adligen. An ihrer Spitze standen Donndubhain als Ta-nist, Finguine von Cnoc Äine und andere als Beobachter des Prozesses, die bezeugen sollten, daß in dem Königreich nach Recht und Gesetz verfahren wurde.
An der linken Seite war der Platz des airecht fo leithe, des besonderen Hofes, der alle voraussichtlichen Zeugen umfaßte. Hier saß unter anderen Bruder Mochta. Es hatte Eadulf überrascht, daß Bruder Mochta von Solam als sein Hauptzeuge gegen Muman benannt worden war. Noch überraschender war die Tatsache, daß das Reliquiar Ailbes in Verwahrung gegeben worden war. Auch Bruder Madagan saß dort, um als Zeuge aufgerufen zu werden, wie auch Bruder Bardan, Nion, der bo-aire von Imleach, Gionga und Capa.
Eadulf merkte, daß die Anwesenheit Bruder Moch-tas und des Reliquiars Fidelma nicht überraschte. Sie hatte ruhig ihren Platz eingenommen, die Hände im Schoß gefaltet und schaute vor sich hin, ohne sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Eadulf ärgerte sich über sie. Seit sie ihm eröffnet hatte, sie glaube die Lösung des Rätsels zu kennen, hatte sie sich strikt geweigert, ihm noch irgend etwas zu erklären. Er war unglücklich. In den letzten Wochen hatte er den Eindruck, Fidelma werde reizbarer denn je und vertraue ihm immer weniger. Er hatte sich als ihren »Seelenfreund« betrachtet, als anam-chara, wie ihn sich jeder Mönch und jede Nonne in Eireann wählte, um ihre weltlichen und religiösen Probleme mit ihm zu besprechen. Er war enttäuscht, wenn sie ihn nicht ins Vertrauen zog.
Colgüs Haushofmeister trat vor und stieß seinen Amtsstab dreimal auf den Boden, um Ruhe im Gerichtssaal zu gebieten. Das riß Eadulf aus seinen traurigen Betrachtungen.
Der Brehon von Cashel, Dathal, war der erste der Richter, der den Saal betrat. Das entsprach dem Protokoll, denn das Gericht tagte ja in Cashel. Dathal war nicht umsonst als »der Flinke« bekannt. Sein Spitzname bezog sich auf sein rasches Urteil in juristischen Dingen. Er war nicht mehr jung, doch sein Haar war noch nicht grau geworden. Seine dunklen Augen blickten scharf, und ihnen entging nichts. Schaute er jemanden an, schien er durch ihn hindurchzusehen. Er war schlank, hager und fast bleich. Er war schnell gereizt und hatte nichts für Trottel übrig, besonders wenn es sich um vor ihm plädierende Anwälte handelte. Er ging schnell zur Richterbank und setzte sich auf den Platz zur Rechten.
Fachtna, der Brehon der Ui Fidgente, folgte ihm rasch und setzte sich auf den linken Platz. Er war etwas älter als Dathal, ebenfalls groß und fast mager. Die Haut zog sich straff über die Gesichtsknochen, so daß sein Kopf wie ein Totenschädel wirkte. Die Haut war wie Pergament, nur über den Backenknochen gerötet. Der Blick seiner grauen Augen wanderte ruhelos umher, und sein Mund war ein dünner roter Schlitz. Sein graues Haar war in der Mitte gescheitelt, glatt nach hinten gekämmt und mit einem Band zusammengefaßt. Er sah aus, als habe er eine gute Mahlzeit nötig.
Als letzter kam der Brehon Rumann von Fearna, der den Platz in der Mitte einnahm. Er war nicht nur der den Vorsitz führende Richter, sondern würde wahrscheinlich auch die Entscheidungen fällen, denn alle in der Großen Halle Versammelten gingen davon aus, daß die Urteile der Brehons von Cashel und der Ui Fidgente von den Wünschen ihrer jeweiligen Fürsten beeinflußt wären.
Als Brehon Rumann zu seinem Stuhl ging, wirkte er überhaupt nicht wie ein Richter. Er war klein und korpulent. Sein Silberhaar trug er so lang, daß die Locken bis auf den Nacken fielen. Die Haut seines gütigen Gesichts war so frisch und rosig wie die eines frischgewaschenen Babys. Die Lippen waren so voll und rot, als habe er sie mit Beerensaft verschönt. Seine nußbraunen Augen waren so hell, daß sie auf den ersten Blick blaß schienen. Er strahlte Freundlichkeit aus. Trotzdem beherrschte er die Szene. Von ihm ging eine ruhige Autorität aus, der sich alle beugten.
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