In der Bibliothek von Imleach gab es auch Plätze, an denen Schreiber arbeiten und studieren konnten. Als Fidelma eintrat, waren mehrere Mönche damit beschäftigt, Bücher zu kopieren. Sie saßen vor langen, dünnen, glatten rechteckigen Brettern, auf die das Pergament gespannt wurde. Es wurde aus den Häuten von Schafen, Ziegen oder Kälbern hergestellt. Die Schreiber verwendeten Tinte, die aus Kohle gemacht und in Kuhhörnern aufbewahrt wurde, und schrieben mit Gänse-, Schwanen- oder sogar Krähenfedern.
Einige wenige der Schreiber lasen auch aus den flesc filidh, den Stäben der Dichter, die aus Eibenholz oder Apfelbaumholz gefertigt wurden und auf denen Texte in Ogham, dem alten irischen Alphabet, eingeritzt waren.
Fidelma genoß einen Augenblick die Atmosphäre des großen Bibliotheksraums der Abtei. Sie hielt sich gern in Bibliotheken auf; sie fühlte sich darin sowohl mit der Vergangenheit wie auch mit der Zukunft verbunden, denn hier wurde in der Gegenwart das Wissen der Vergangenheit von den Schreibern in die Zukunft übertragen. Jede Bibliothek, die sie betrat, erfüllte sie mit einem kindlichen Staunen.
Sie erblickte Solam sofort; er saß abseits von den Schreibern in einer Ecke der Bibliothek und las. Leise ging sie hinüber zu seinem Tisch.
»Wie ich sehe, hast du dich ausgeruht, Solam, und dein Mißgeschick unbeschadet überstanden«, sagte sie etwas ironisch und ließ sich ihm gegenüber nieder.
Er blickte auf, sichtlich verärgert über die Unterbrechung.
»Ich hatte Glück, daß ich nicht verletzt wurde, Schwester«, erwiderte er ebenfalls leise, um die anderen Leser nicht zu stören. »Trotzdem werde ich eine Beschwerde beim Oberrichter der fünf Königreiche einreichen. Glaube ja nicht, daß du mich davon abbringen kannst.«
Trotzig schob er das Kinn vor.
»Das würde mir nicht einmal im Traum einfallen«, antwortete Fidelma. »Immerhin wirst du als ein dalaigh von nicht geringem Ruf ...« Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Ich weiß, du wirst die Aufgeregtheit der Leute in Anbetracht dessen, was gestern hier geschah, berücksichtigen.«
Solam ließ sich nicht besänftigen. »Das verringert nicht die Schwere des Falls, denn auch nachdem ich mich zu erkennen gegeben hatte, versuchten diese Leute, mich umzubringen.«
»Sie haben dich aber nicht umgebracht«, erinnerte ihn Fidelma. »Dennoch würde ich dich nie und nimmer davon abhalten wollen, eine Beschwerde einzureichen.«
Solam schnaubte verächtlich. »Das würde dir auch nicht gelingen.«
»Natürlich hast du nur einen Anspruch auf Entschädigung, wenn deine Beschwerde berechtigt ist. Das heißt, wenn die Leute keinen echten Grund hatten, dich zu fürchten. Wenn sie nicht wirklich glaubten, sie seien von den Ui Fidgente angegriffen worden, dann gäbe es wahrlich keinen Grund für den Zorn, der sich gegen dich richtete. Falls sie jedoch tatsächlich glaubten, sie seien überfallen worden .«
Mit einer Handbewegung schloß sie das Thema ab.
»Du brauchst mich nicht in der Rechtskunde zu unterweisen«, fauchte Solam und erhob dabei die Stimme so sehr, daß manche der Schreiber aufblickten. Die Stentorstimme des Hauptbibliothekars, der an seinem Tisch in der Mitte des Raumes saß, verlangte zischend Ruhe.
»Wie gut kennst du Bruder Bardan?« fragte Fidel-ma unschuldig.
Der kleine Mann sah sie geringschätzig an.
»Hältst du es für angemessen, daß wir als Anwälte gegnerischer Parteien etwas besprechen, was mit der Anhörung in Cashel zu tun hat?«
Fidelma merkte, daß sie allmählich wütend wurde, bezwang sich aber.
»Ich hatte nicht den Eindruck, daß wir das tun«, entgegnete sie und bemühte sich, ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen. »Nach dem, was du mir gesagt hast, bist du über alle Einzelheiten des Falls unterrichtet, also können wir uns doch einfach unterhalten.«
»Als dalaigh habe ich die Aufgabe, jeden zu befragen, bei dem ich das für angebracht halte. Donennach, mein Fürst, forderte mich durch einen Boten auf, nach Cashel zu kommen, und der Bote brachte eine Kopie des Protokolls mit, das Donndubhain, der Tanist von Cashel, aufgesetzt hatte. Deshalb machte ich mich sofort auf den Weg.«
Fidelma lächelte. »Vermutlich hat dir der Bote aus Cashel auch gesagt, daß ich nach Imleach unterwegs bin, und deshalb kamst du her?«
Solam wurde rot.
»Ich kam her ...«, begann er und merkte dann, daß sie ihn in eine Falle gelockt hatte.
»Die Straße von Luimneach nach Cashel verläuft weiter nördlich. Daraus schloß ich, daß du es für klüger gehalten hast, erst hierher zu kommen. Stimmt das?«
Seine Augen verengten sich.
»Du bist eine sehr schlaue Dame, Fidelma«, sagte er eisig. »Ich hatte schon von deinem Ruf gehört.«
»Das ist sehr schmeichelhaft«, erwiderte Fidelma höflich und ließ die unbeantwortete Frage wirken.
»Als dalaigh«, erklärte Solam, »war es meine Pflicht, festzustellen, ob ihr das Kruzifix identifizieren konntet. Anscheinend ist euch das gelungen: Es ist das Kruzifix Ailbes, des Gründers der Abtei, das Kruzifix, das aus der Kapelle verschwand, in der es mehr als ein Jahrhundert lang aufbewahrt wurde.«
Fidelma bemühte sich, ihre Überraschung darüber zu verbergen, daß Solam das so schnell herausgefunden hatte.
Der dalaigh lehnte sich selbstzufrieden zurück.
»Ich wußte nicht, daß Bruder Bardan ein so geschwätziger Mensch ist«, sagte sie leise.
Solam leugnete nicht, daß er es vom Apotheker wußte. »Er ist jedenfalls hilfsbereiter als viele andere hier.«
»Du machst deinem Ruf Ehre, Solam«, antwortete Fidelma.
»Damit habe ich nun den Beweis, daß das Mordkomplott nicht von den Ui Fidgente ausgegangen ist, wie du behauptet hast.«
»Da bist du falsch unterrichtet worden, Solam«, konterte Fidelma. »Ich habe nichts behauptet. Du hast die Pflichten eines dalaigh erwähnt. Es ist auch meine Pflicht, Tatsachen zu sammeln und sie den Brehons vorzulegen. Andere Leute haben Behauptungen aufgestellt, nicht ich. Ich werde weiter nach der Wahrheit suchen, bis ich sicher bin, daß ich sie gefunden habe.«
»Ich meine, daß die Wahrheit viel näher bei Cashel liegt, als du denkst«, entgegnete der Anwalt der Ui Fidgente. Plötzlich beugte er sich über den Tisch vor und blickte ihr gerade ins Gesicht. Mit monotoner Stimme, kaum lauter als im Flüsterton, sagte er: »Ich glaube, dein Bruder hat vor, die Ui Fidgente zu vernichten. Er will den Sieg vollenden, den er im vorigen Jahr bei Cnoc Äine errang, als unser König Eoganan fiel. Welchen besseren Vorwand könnte er für unsere Vernichtung finden als die Behauptung, unser Fürst Donennach sei in eine Verschwörung verwickelt, ihn aus Rache zu ermorden? Wenn er den Leuten das einreden kann, dann helfen sie ihm, die Ui Fidgente zu vernichten. Nun, ich werde die Wahrheit verkünden -und die Wahrheit ist, daß dein Bruder Colgü hinter dieser Verschwörung steckt!«
Trotzig lehnte sich Solam zurück und verschränkte die Arme.
Fidelma schwieg einen Moment und gestattete sich dann ein leichtes Lächeln. Traurig schüttelte sie den Kopf.
»Deine Gerichtssaal-Taktik ist ausgezeichnet, Solam. Allerdings wäre es besser, wenn du sie dir für die Verhandlung aufheben würdest. Und denke daran, Bre-hons halten sich an Tatsachen, nicht an Vermutungen.«
Mit hochrotem Gesicht sprang Solam auf. Fidelmas hatte offenkundig recht, wenn sie ihn als reizbar und nervös einschätzte. Diese seine Eigenschaften könnten eine Waffe in ihren Händen werden, wenn sie ihre Sache vor den Brehons vertrat. Einen Moment glaubte Fidelma, Solams Wut würde sich in einem Zornesausbruch Luft machen, doch da hatte sich der kleine dalaigh schon wieder in der Gewalt.
»Das werden wir ja sehen«, knurrte er und stürmte aus dem Bibliothekssaal. Ein oder zwei Schreiber sahen bei seinem lauten Abgang von ihren Büchern auf.
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