»Da hörst du’s«, sagte Finguine zu Fidelma. »Ich fürchte, wir müssen eher nach einer Leiche suchen als nach dem lebenden Bruder Mochta. Als die Diebe die heiligen Reliquien in den Händen hatten, wozu brauchten sie da noch Bruder Mochta?«
»Warum nahmen sie ihn dann überhaupt mit?« Die Frage konnte sich Fidelma nicht verkneifen.
»Vielleicht, damit er nicht Alarm schlug?«
»Dann hätten sie ihn auch gefesselt in seiner Zelle lassen können«, wandte Eadulf ein.
»Stimmt. Aber dann wäre er vielleicht früher gefunden worden, als ihnen recht war, deshalb nahmen sie ihn lieber mit. So verloren die Mönche Zeit mit der Suche, und die Diebe hatten Gelegenheit, wegzureiten.«
»Ich glaube, mein Vetter, der Fürst von Cnoc Äine, entwickelt da eine gute Theorie, Eadulf.«
Eadulf starrte Fidelma verwundert an. In ihrem Tonfall spürte er deutlich die Warnung, Finguine nicht zu heftig zu widersprechen.
»Allerdings, Vetter«, fuhr sie fort, »läßt sich deine These nur beweisen oder widerlegen, wenn wir Bruder Mochtas Überreste in den Bergen finden.«
Finguine reckte sich und lächelte schmerzlich.
»Ich fürchte, da kann ich euch helfen.«
»Heißt das, die Überreste Bruder Mochtas wurden gefunden?« fragte Eadulf erstaunt.
»Ja.«
»Und wo hat man sie gefunden?« erkundigte sich Fidelma.
»Kommt, ich zeige sie euch«, antwortete Finguine rasch. »Einer meiner Männer machte den grauenvollen Fund auf einem Feld gar nicht weit von hier. Es war das Werk von Wölfen. Er brachte die Reste in einem Sack hier her, damit man feststellen kann, wer der Tote ist. Sie liegen beim Apotheker.«
»Bei Bruder Bardan?«
»Wenn das der Apotheker ist, ja.«
»Weiß man schon, um wen es sich handelt?«
»Noch nicht. Während Bardan damit beschäftigt war, das herauszufinden, sah ich mir Mochtas Zelle an, um zu prüfen, ob ihr Zustand zu meiner Theorie paßt.«
Sie folgten dem Fürsten von Cnoc Äine zum Bestattungsraum. Einer von Finguines Männern hockte niedergeschlagen auf einer Tischkante. Bruder Bardan beugte sich über etwas, das ausgewickelt auf dem Tisch lag.
Mit düsterer Miene sah er auf, als sie eintraten.
»Ich fürchte, da gibt es keinen Zweifel«, sagte er wie zur Antwort auf ihre stumme Frage.
»Ist das der verschwundene Mönch?« Finguine wollte es genau wissen.
Bruder Bardan nickte mürrisch. »Das hier ist ein Unterarm Bruder Mochtas. Er wurde von einem Wolf abgerissen. Man sieht noch die Spuren seines Gebisses.«
Fidelma nahm all ihren Mut zusammen und stellte sich neben ihn. Sie schaute hinunter. Es war ein zerfetzter, blutiger Unterarm, am Ellbogen abgerissen. Die Hand war noch dran. Es war ein linker Unterarm.
»Also, das löst das Rätsel, was aus dem armen Bruder geworden ist«, erklärte Finguine. »Ich denke, es bestätigt auch meine Theorie des Diebstahls.«
Fidelma schwieg. Sie starrte immer noch auf den Unterarm, dann wandte sie sich erschaudernd ab.
»Bist du sicher, daß dieser Unterarm von Bruder Mochta stammt?« fragte sie.
»Wie ich schon sagte, gibt es da keinen Zweifel«, bestätigte der Apotheker.
»Vielen Dank, Bruder.«
»Ich schicke ein paar Mann hinaus, die an der Stelle, wo das gefunden wurde, nachsuchen«, versicherte Finguine dem Apotheker. »Vielleicht finden sie die Spur der Diebe, aber das halte ich für unwahrscheinlich.«
»Laß es mich wissen, wenn noch etwas auftaucht«, bat Fidelma ihren Vetter und winkte Eadulf, ihr zu folgen.
»Nun«, sagte Eadulf langsam, als sie allein waren, »das wäre also das. Jetzt wissen wir, was mit Bruder Mochta passiert ist.«
»Eben nicht«, erwiderte Fidelma gereizt. »Wir wissen jetzt nur mit Bestimmtheit, daß Bruder Bardan uns belügt.«
»Bruder Bardan belügt uns?« Eadulf zog überrascht die Brauen hoch. »Woraus schließt du das?«
»Bruder Bardan hat entschieden und ohne jeden Zweifel behauptet, daß der Unterarm von Bruder Mochta stammt.«
»Ja. Meinst du, daß er lügt? Daß es nicht Mochtas Arm ist und der Apotheker das weiß?«
»Das hast du doch wohl gemerkt«, sagte Fidelma ungeduldig.
Eadulf schüttelte ratlos den Kopf. »Woher wissen wir, daß es nicht Bruder Mochtas Arm ist?«
»Welcher Arm ist es?«
»Der linke. Der linke Unterarm ... ach so!«
Jetzt hatte Eadulf begriffen. Nach der Beschreibung Abt Segdaes hatte Mochta auf dem linken Unterarm einen Vogel eintätowiert, genau wie die Leiche in Cashel. Bruder Bardan mußte wissen, daß auf diesem Unterarm die Tätowierung fehlte.
»Also hat er bewußt gelogen«, erklärte Fidelma.
»Aber warum? Und wessen Arm ist es?« fragte Ea-dulf.
»Der Arm des Kutschers von Samradan, den sich die Wölfe vorgenommen hatten. Warum lügt er? Vielleicht will er uns davon abhalten, weiter nach Bruder Mochta zu suchen? Kann Mochta der tote Attentäter von Cashel sein? Offene Fragen. Doch ein Stückchen weiter sind wir, glaube ich. Gehen wir.«
Sie eilte zurück zu Bruder Mochtas Zelle. Diesmal ging sie aber weiter, vergewisserte sich, daß sie unbeobachtet waren, und öffnete die Tür des nächsten Raums - der Zelle Bruder Bardans. Sie zog Eadulf mit hinein.
»Was suchen wir hier?« flüsterte er erstaunt.
»Das weiß ich nicht genau. Bleib an der Tür und sag Bescheid, wenn jemand kommt.«
Die Zelle war sparsam eingerichtet: Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und Haken für die Kleidung. An ihnen hingen zwei Kutten zum Wechseln, ein Wollman-tel für den Winter, ein Lederhut gegen Regen und zwei Paar Sandalen, eins davon mit Nägeln beschlagen und mit grünen Flecken - dies benutzte der Apotheker wohl, wenn er draußen Wildkräuter sammelte. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher, beide über Kräuterheilkunde. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie, daß das eine erst geschrieben wurde, die meisten seiner Seiten waren noch leer. Die ersten Seiten zeigten eine Handschrift, die ihr irgendwie bekannt vorkam.
Sie langte in ihr marsupium und holte einige der Blätter heraus, die sie in Bruder Mochtas Zelle gefunden hatte, die Auszüge aus den »Annalen von Im-leach«. Es war dieselbe Handschrift. Hatte Bruder Mochta dem Bruder Bardan beim Schreiben seiner medizinischen Abhandlung geholfen? Wenn ja, dann hieß das, daß die beiden sich sehr gut gekannt hatten und Bruder Bardan kaum ein Irrtum bei der Identifizierung des Unterarms unterlaufen sein konnte.
Sonst gab es anscheinend nichts von Interesse in diesem Raum.
Instinktiv kniete Fidelma nieder und schaute unter das hölzerne Bettgestell. Dort lagen ein paar Gegenstände, die sie hervorholte. Es waren ein aufgerolltes Seil, eine gefüllte Öllampe mit frisch geputztem Docht und ein großer Beutel, der Lebensmittel und eine kleine Amphore mit Wein enthielt.
Fidelma betrachtete den Beutel und seinen Inhalt einen Moment, dann nickte sie düster, als habe sie erwartet, so etwas zu finden.
Sie legte alles sorgfältig zurück und trat dann mit Eadulf wortlos auf den Gang hinaus. Er folgte ihr schweigend durch die Tür zum Kreuzgang gegenüber dem Gästehaus. An der anderen Seite stand die Kapelle der Abtei, an der dritten führte eine Pforte in einen kleinen Garten.
»Dort zieht Bruder Bardan seine Kräuter«, erklärte sie. »Sehen wir uns das einmal an.«
Eadulf folgte ihr über den Hof und durch den Bogengang in den kleinen Kräutergarten.
»Aha!«
Fidelma schritt sofort auf eine kleine Holztür an der gegenüberliegenden Seite zu. Sie war verriegelt. Rasch zog sie den Riegel zurück und öffnete die Tür.
»Wohin führt sie?« brach Eadulf neugierig sein Schweigen.
Fidelma trat stumm zur Seite.
Eadulf sah, daß hinter der Tür ein freundliches, von Eiben gesäumtes Feld lag. Die Tür führte aus der Abtei heraus auf der Seite, die von der Stadt abgewandt war. Fidelma schloß die Tür wieder und schob den Riegel vor. Plötzlich beugte sie sich vor und betastete etwas am Pfosten.
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