»Du hast nicht bemerkt, wohin Bruder Bardan ging, als er dein Haus verließ?« bohrte Fidelma weiter.
»Nein. Du erinnerst dich sicher, daß ich euch folgte, weil ich sehen wollte, was der ganze Aufruhr zu bedeuten hatte.«
»Du kamst später als die meisten anderen«, erwiderte Eadulf, spürbar verärgert über die ausweichende Antwort des Schmieds.
Nion zeigte auf sein verwundetes Bein. »Ich laufe zur Zeit nicht sehr schnell«, meinte er spöttisch.
Eadulf errötete.
»Mein Gefährte wollte nicht taktlos sein«, entschuldigte sich Fidelma. »Hast du gar keine Vermutung, wohin sich Bruder Bardan gewandt haben könnte?«
»Nein. Wahrscheinlich ist er auf dem Friedhof ...«
»Von dort kommen wir gerade«, sagte Eadulf.
»Dann versucht’s mal in der Abtei.«
Fidelma ging zur Tür, und dort drehte sie sich noch einmal zu dem Schmied um.
»Solange sich Solam hier aufhält, behandelt ihn mit dem Respekt, der jedem durchreisenden dalaigh gebührt. Wir haben keine Beweise dafür, daß er etwas anderes ist, als was er zu sein vorgibt. Wenn ihm etwas zustößt, trifft den Schuldigen die Strafe des Gesetzes.«
Nion gab keine Antwort, sie schob den Riegel weg, und Eadulf folgte ihr auf die Straße.
Draußen blieben sie stehen.
»Das klang alles so, als würdest du ihn verdächtigen«, hielt ihr Eadulf vor.
»Wirklich?« meinte sie, sagte aber nichts weiter.
Schweigend gingen sie zurück zur Abtei. Fidelma schien in Gedanken versunken, und Eadulf wollte sie lieber nicht stören.
Als sie die Abtei erreichten, läutete die Glocke gerade zum mittäglichen Angelus-Gebet.
Wortlos begaben sich Fidelma und Eadulf in die Kapelle. Es war ein unwillkürlicher Entschluß, den jeder für sich faßte. Der Psalmengesang wurde von Abt Segdae angeführt, der seinen gewohnten Lebensmut wiedergefunden zu haben schien. Seine Stimme war aus dem Gesang der Gemeinde herauszuhören.
»Oculi omnium in Te aspiciunt et in Te sperant!«
Fidelma senkte den Kopf und übersetzte für sich: »Die Augen aller sind auf dich gerichtet und hoffen auf dich.« Es war, als wolle Segdae sie an ihre Verantwortung erinnern. Doch zum erstenmal in ihrem Leben war sie völlig verwirrt. Bei den früheren Untersuchungen, die sie geführt hatte, gab es gewöhnlich eine Spur, die sie verfolgen konnte. Diesmal hatte sie mehrere Spuren und viele Rätsel vor sich, die nicht notwendigerweise zusammenhingen. Oder doch? Sie war sich nicht einmal dessen sicher.
Sie nahm den Rest des Gottesdienstes kaum wahr. Als der letzte Psalm gesungen war, strömte die Gemeinde dem Speisesaal zu, um das etar-suth, das Mittagsmahl, einzunehmen. Wie üblich legte man am Eingang die Schuhe oder Sandalen ab. Sie tat es fast unbewußt, trat ein und setzte sich an einen der langen Holztische. Abt Segdae sprach das lateinische Gratias, dann erhob sich ein leises Gemurmel, und die Gemeinschaft begann zu essen.
Wie meist bestand die leichte Mittagsmahlzeit aus Brot, Käse und Obst, dazu wurde je nach Geschmack Ale oder Wasser gereicht. Während Fidelma aß, gingen ihr all die vielen quälenden Fragen durch den Kopf.
Schließlich merkte sie, daß jemand sie ansprach.
Sie blickte auf und erkannte den Verwalter der Abtei, Bruder Madagan, der immer noch ziemlich blaß aussah, aber sonst guter Stimmung zu sein schien. Im Speisesaal hielten sich nur noch wenige Leute auf, darunter Ea-dulf, der neben ihr gesessen hatte, ohne sie zu stören. Bruder Madagan setzte sich auf die Bank ihr gegenüber.
»Ich möchte mich bei dir und bei Bruder Eadulf bedanken, daß ihr mich bei dem Überfall hereingeschleppt habt«, sagte Bruder Madagan. »Ich erinnere mich kaum an das, was zwischen dem Moment, als ich getroffen wurde, und dem, als ich auf dem Hof wieder zu mir kam, geschehen ist. Bruder Tomar hat mir alles erzählt. Daß die arme Cred erschlagen und Bruder Daig getötet wurde. Ihr beide habt euer Leben gewagt, um mich zu retten.«
»Was ist mit deiner Wunde, Bruder, heilt sie?« fragte Fidelma mit einer abwehrenden Handbewegung. Obwohl der Verwalter sich bemühte, freundlich zu sein, mochte sie ihn nicht. Seine Augen blickten kalt, und Fidelma spürte etwas Unbarmherziges in ihnen.
»Gott sei Dank«, erwiderte Bruder Madagan. »Zum Glück traf der Krieger meinen Schädel nur mit der flachen Klinge. Eine Weile dröhnte mir der Kopf wie ein Schmiedehammer auf dem Amboß. Ich habe eine Beule von der Größe eines caman-Balls.«
Ein caman-Ball, liathroid genannt, hatte einen Durchmesser von etwa zehn Zentimetern und wurde aus einem leichten, elastischen Material wie Wollgarn gemacht, das gewickelt und anschließend mit Leder überzogen wurde. Damit spielte man Treibball.
»Wir dachten schon, du wärst tot«, meinte Eadulf.
»Die Gottlosen siegen nicht so leicht«, erklärte Bruder Madagan salbungsvoll. Doch in seiner Stimme lag kalter Haß.
»Sie haben aber viel Tod und Verderben gebracht«, ergänzte Fidelma.
Madagans Blick war eisig.
»Das habe ich schon von Schwester Scothnat gehört. Ach, ich hätte nicht versuchen sollen, den Angreifer mit dem Hinweis auf das Kirchenasyl aufzuhalten. Er wußte offenbar gar nicht, was das ist. Er verstand nur die Sprache des Schwerts.«
»Du kamst also wieder zu Bewußtsein, als wir dich durch das Tor hereinzogen?« fragte Fidelma.
»Ja. Allerdings ist meine Erinnerung an diese Momente wirr; ich glaube, ich war mehr bewußtlos als bei Bewußtsein. Ich besinne mich darauf, wie dankbar ich war, als das Tor der Abtei zuschlug. Dann weiß ich nicht mehr viel, bis ich Jubelrufe vernahm. Schwester Scothnat meint, das war, als dein Vetter, der Fürst von Cnoc Äine, ankam und die Angreifer vertrieb.«
Fidelma schaute nachdenklich drein.
»Erinnerst du dich daran, wie du auf dein Zimmer gebracht wurdest?« fragte sie.
Madagan nickte leicht. Dann zuckte er zusammen, denn durch die Bewegung war der Schmerz in seinem angeschlagenen Schädel augenblicklich stärker geworden.
»Kannst du dich an etwas davor erinnern?«
Der Verwalter überlegte einen Moment. »An was zum Beispiel?«
»Du sagst, du weißt noch, wie du auf den Hof gebracht wurdest?«
»Ja. Ich hab gehört, wie die Brüder den armen Bruder Daig beklagten. Er war ja erst siebzehn Jahre alt.«
»In der Nähe lag auch der gefangene Angreifer gefesselt.«
In Bruder Madagans Augen funkelte es einen Augenblick.
»Schwester Scothnat hat mir berichtet, daß er gefangen, aber nicht getötet wurde. Hätte ich zu der Zeit gewußt, was ich jetzt weiß, ich glaube, ich wäre aufgestanden und hätte ihn eigenhändig umgebracht.« Fi-delma spürte die Leidenschaft in seinem Ton. Er zögerte und wurde ruhiger. »Verurteilt ihr mich wegen solcher Gedanken? Ein Glaubensbruder sollte solche natürlichen Gefühle wie Haß und Zorn nicht äußern? Aber Daig war so ein sanftes Wesen. Er war zu keiner Gewalt fähig, und doch hat ihn diese Bestie erschlagen. Für die Seele dieses Mörders bete ich nicht, Schwester Fidelma.«
Ein kurzes Schweigen trat ein.
»Das verlange ich auch nicht von dir«, antwortete Fidelma ernst. »Worum ich dich bitte, ist nur, dir diese Augenblicke noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, Bruder Madagan. Erinnerst du dich, wie du auf dein Zimmer gebracht wurdest?«
Bruder Madagan rieb sich das Kinn.
»Schwach. Der Apotheker kam und untersuchte uns alle, glaube ich. Er beugte sich über mich. Ich war immer noch nicht ganz bei mir. Er sah, daß ich einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, aber keine offene Wunde hatte, und gab zwei jungen Brüdern den Auftrag, mir auf mein Zimmer zu helfen und meinen Kopf zu waschen und zu verbinden.«
»Der Apotheker?« Eadulf beugte sich interessiert vor.
»Bruder Bardan. Einen anderen Apotheker haben wir hier nicht.«
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