»Nun, ich wurde gestört«, erklärte Bruder Daig.
Fidelma wandte sich ihm zu. Diese Antwort hatte sie nicht erwartet. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß Bruder Bardans Miene zornig wurde und er seinen Gefährten anblickte. Er öffnete den Mund, und sie glaubte, er werde den Jungen anfahren, doch er schwieg.
»Hast du das gemeldet?« wollte sie wissen.
»Ach, so schlimm war es nicht«, erwiderte der Jüngling.
»Wie war es dann?«
»Ich schlafe leicht und erinnere mich, daß ich nachts wach wurde, weil eine Tür zufiel. Ich glaubte, es sei der Wind gewesen, denn kein Bruder schließt auf diese Art eine Tür. Sie knallte zu.«
»Was geschah dann?« fragte Fidelma.
»Nichts«, gestand Bruder Daig. »Ich drehte mich um und schlief wieder ein.«
Fidelma war enttäuscht. »Du weißt nicht, welche Tür zuknallte?« drang sie in ihn.
»Nein, aber eins weiß ich: Es soll um diese Zeit in Mochtas Zelle einen Kampf gegeben haben. Ich sage, das ist unmöglich.«
»Ja?« ermunterte Fidelma ihn, fortzufahren.
»Wenn es einen solchen Kampf gegeben hätte, dann hätte ich es bestimmt gehört. Ich wäre wach geworden. Außer dem Zuschlagen der Tür hat mich in der Nacht nichts geweckt.«
Bruder Bardan lächelte skeptisch. »Ach, Daig, man weiß doch, daß junge Menschen manchmal große Ereignisse verschlafen. Wie willst du so sicher sein, daß in der Nacht nichts Schlimmes in Mochtas Zelle geschehen ist? Nach dem, was wir gehört haben, beweist der Zustand der Zelle das Gegenteil.«
»Von solch einem Kampf wäre ich wach geworden«, erklärte Daig empört. »Ich wurde aber nur vom Türenknallen geweckt.«
»Na, ich muß zugeben, ich habe nichts gehört«, versicherte Bardan.
Fidelma dankte beiden, ließ sie am Tor der Abtei stehen und ging, von Eadulf gefolgt, über den Platz auf die Stadt zu. Nach einigen Schritten schaute sie rasch über die Schulter zurück. Bruder Bardan stand noch an derselben Stelle und redete lebhaft auf den jüngeren Mönch ein. Anscheinend machte er ihm heftige Vorwürfe.
Eadulf hatte das nicht bemerkt und sagte im Weitergehen: »Na, beweist das nicht deine Theorie? Es gab keine Auseinandersetzung in Mochtas Zelle.«
»Aber hilft uns das weiter?« überlegte Fidelma, als sie an der großen Eibe vorbeigingen.
»Wie meinst du das?« fragte Eadulf.
»Es würde uns weiterhelfen, wenn wir mit Sicherheit wüßten, daß Bruder Mochta derselbe Mann ist, der in Cashel getötet wurde. Doch nach Madagan und den anderen hier beschreiben wir zwar denselben Mann, aber mit einem Unterschied, der nicht zu erklären ist.«
Eadulf breitete die Hände aus. »Ich weiß. Die Tonsur. Ich habe immer wieder versucht, eine vernünftige Erklärung dafür zu finden, aber es gibt keine. Bruder Mochta wurde hier zuletzt vor weniger als achtundvierzig Stunden gesehen mit einer frisch geschorenen Tonsur des heiligen Johannes. Der Mann, den wir für Mochta hielten, wurde vor vierundzwanzig Stunden in Cashel gefunden mit einer Tonsur des heiligen Petrus, aber mit einem Haarwuchs von einigen Wochen auf dem Schädel. Wie paßt das zusammen?«
»Du hast noch etwas übersehen«, ergänzte Fidelma.
»Nämlich?«
»Aona sah den Mann mit der Tonsur des heiligen Petrus vor einer Woche am Brunnen von Ara. Segdae sagte, Mochta habe die Abtei kaum jemals verlassen. Auch das spricht dagegen, daß der Tote in Cashel Mochta ist.«
Eadulf schüttelte verärgert den Kopf.
»Ich finde keine vernünftige Erklärung dafür.«
»Verstehst du jetzt, warum es zwecklos wäre, Abt Segdae unsere Vermutungen mitzuteilen? Ehe wir nicht ein paar Antworten haben, sind es Vermutungen und keine Schlußfolgerungen.«
Das sah Eadulf ein.
Sie hatten den Platz überquert und erreichten die Gruppe von Häusern, Scheunen und anderen Gebäuden, die das Städtchen Imleach bildeten. Es war in den letzten hundert Jahren im Schatten der Abtei und ihres Bischofssitzes entstanden. Vorher war es einfach der Versammlungsplatz um den heiligen Eibenbaum gewesen, zu dem die Eoghanacht-Könige kamen, um ihren Eid abzulegen und ihr Amt anzutreten. Die Abtei hatte Kaufleute, Baumeister und andere angelockt, und nun gab es eine Ansiedlung von mehreren hundert Menschen vor den Mauern der Abtei.
Fidelma blieb stehen und sah sich um.
»Wohin gehen wir jetzt?« fragte Eadulf.
»Wir suchen einen Schmied«, antwortete Fidelma kurz. »Was sonst?«
Sie brauchten sich nicht nach der Schmiede zu erkundigen, denn das Keuchen der Blasebälge und das Schlagen von Eisen auf Eisen waren deutlich zu hören, als Fidelma und Eadulf sich der Gruppe von Häusern näherten, die sich entlang der Hauptstraße unweit des Tors der Abtei erstreckten. Die Schmiede war aus Stein erbaut, der Herd stand auf mächtigen Steinplatten. Eine der Platten hatte ein kleines Loch, durch das ein Rohr den Luftstrom aus den Blasebälgen ins Feuer leitete.
Das Keuchen kam von einem imponierenden vier-kammerigen Blasebalg. Eadulf hatte gehört, daß es solche großen Blasebälge gab, hatte aber noch nie einen gesehen. Er wußte, daß sie das Schmiedefeuer gleichmäßiger mit Luft versorgten als die üblichen zweikammerigen. Sie verlangten aber auch härtere Arbeit. Sie sahen, wie ein stämmiger Schmiedegehilfe auf zwei kurzen Brettern stand und wie ein Fußgänger im Wechsel die Füße hob und senkte und auf diese Weise den Blasebalg trat. Je schneller er die Füße bewegte, desto stärker arbeitete der Blasebalg.
Der Schmied stand schwitzend am Feuer, ein kräftiger Mann in den Dreißigern. Er trug Lederhosen und statt des Hemds eine Lederschürze, die ihn vor den Funken schützte. Er hielt ein rotglühendes Stück Eisen in einer tennchair, einer Schmiedezange, auf dem Amboß. Mit der anderen Hand schwang er den Hammer und formte das Eisen mit dröhnenden Schlägen, bis er es in einen telchuma genannten Wassertrog steckte.
Der Schmied sah sie kommen und hielt bei seiner Arbeit inne. Er spuckte auf die glühenden Kohlen, daß es zischte.
»Suibne, hol noch mehr Holzkohle«, befahl er seinem Gehilfen, ohne den Blick von ihnen zu lassen.
Der Blasebalgtreter sprang von den Brettern herunter und verschwand in einem Schuppen.
Der Schmied wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht, als sie vor ihm stehenblieben.
»Was kann ich für euch tun?« fragte er und sah sie prüfend an. »Sucht ihr mich als Schmied auf oder als bo-aire dieser Gemeinschaft?«
Ein bo-aire war ein Ortsvorsteher, ein Häuptling ohne Landbesitz, dessen Reichtum früher an der Zahl der Rinder, die er besaß, gemessen wurde und der deshalb »Kuhhäuptling« hieß. Kleine Gemeinschaften wie diese wurden gewöhnlich von einem bo-aire geleitet, der einem höheren Fürsten unterstand.
»Ich bin Fidelma von Cashel«, stellte sich Fidelma vor. Sie sprach förmlicher mit dem Mann, da sie nun wußte, daß er ein Amt innehatte. »Wie ist dein Name?«
Der Schmied richtete sich merklich auf. Wer hatte noch nicht von der Schwester des Königs gehört? Der Fürst, dem er unterstand, war Fidelmas Vetter, Fin-guine von Cnoc Äine.
»Ich heiße Nion, Lady.«
Fidelma holte die Pfeile aus ihrem marsupium, den einen aus dem Köcher des Attentäters und den zerbrochenen aus Mochtas Zelle.
»Sag mir, was du davon hältst, Nion«, wollte sie ohne nähere Erklärung wissen.
Der Schmied wischte sich die Hände sorgfältig an der Schürze ab, nahm die Pfeile und besah sie sich genau.
»Ich bin kein Pfeilschmied, habe allerdings auch schon Pfeilspitzen gemacht. Die hier sind gut gearbeitet. Die Spitze des einen ist aus Bronze und besitzt, wie du siehst, eine hohle cro ...«
»Eine was?« fragte Eadulf und beugte sich vor.
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