Plötzlich ging die Tür auf, und der Junge, mit dem Fidelma beim Angeln gesprochen hatte, kam herein.
Aona winkte ihn heran. »Mein Enkel Adag kann euch vielleicht weiterhelfen. Er hat sie bedient, während ich mich um ihre Pferde kümmerte.«
Bevor Fidelma etwas sagen konnte, fragte ihn Aona: »Adag, erinnerst du dich noch an die beiden Männer, über die du dich so lustig gemacht hast, als sie vor einer Woche hier einkehrten?«
Der Junge legte Angel und Fischnetz auf den Tisch und sah Fidelma und Eadulf unruhig an. Er antwortete nicht.
»Komm schon, Adag, du brauchst keine Angst zu haben. Du erinnerst dich doch, daß du es so komisch fandst, weil der eine lang und dürr und der andere klein und dick war und sie so ein merkwürdiges Paar abgaben.«
Widerwillig nickte der Knabe.
»Kannst du uns sonst noch was über sie sagen, Adag«, fragte Fidelma. »Abgesehen von ihrer Erscheinung.«
»Bloß, daß der eine dick war und der andere ein Bogenschütze.«
»Na, das wissen wir schon. Aber was weiter?«
Adag zuckte gleichmütig die Achseln. »Weiter nichts. Ich hab sie bedient, während mein Großvater ihre Pferde versorgte.«
»Also kamen sie zu Pferde«, triumphierte Eadulf. Zu Fidelma gewandt, setzte er hinzu: »Ungewöhnlich, daß ein Mönch zu Pferde reist.«
Der Junge sah ihn neugierig an. »Na, du und die Schwester, ihr reist doch auch zu Pferde.«
»Das ist, weil ...«, wollte Eadulf erklären, doch Adags Großvater unterbrach ihn.
»Das mußt du noch lernen, mein Junge, daß manche Mönche und Nonnen nicht mehr an die allgemeine Regel, die ihnen Reiten untersagt, gebunden sind, wenn sie einen gewissen Rang besitzen. Das erkläre ich dir später. Jetzt beantworte die Fragen der Lady.«
Adag zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich, daß der Dicke dem Bogenschützen einen Lederbeutel gab, während sie zusammen tranken. Das ist alles.«
»Weiter nichts?«
»Bloß, daß der Dicke ein Fremder war.«
»Ein Ausländer?«
»Nein, aus Eireann war er wohl, aber nicht aus dem Süden, glaube ich, das hörte man an seinem Akzent. Der Bogenschütze war aus dem Süden, das weiß ich, aber nicht der Mönch.«
»Hast du nicht verstanden, worüber sie sich unterhalten haben?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Hat jemand gesehen, aus welcher Richtung sie kamen?«
»Nein, aber der Dicke kam zuerst«, ergänzte Aona.
»Ach? Sie kamen also nicht zusammen an?«
»Nein, daran erinnere ich mich jetzt. Der Dicke tauchte als erster auf, und sein Pferd mußte versorgt werden. Nur ich und mein Enkel waren hier. Also kümmerte ich mich um das Pferd, und Adag setzte dem Mönch Essen vor. Danach traf der Bogenschütze ein. Ich sah nicht, aus welcher Richtung, weil ich im Stall war.«
»Und an den Pferden fiel euch nichts auf?« bohrte Fidelma weiter.
Aona schüttelte den Kopf, doch dann leuchtete es in seinen Augen auf. »Das Pferd des Bogenschützen hatte Narben. Es war ein Schlachtroß, ein Brauner, schon ziemlich alt, mit mehreren verheilten Wunden. Dem Sattel nach ein Kriegerpferd. Am Sattel hing ein zweiter Köcher. Sonst trug er alle seine Waffen bei sich. Das Pferd des Dicken war in gutem Stande, Geschirr und Sattel von guter Qualität, so wie man sie eher bei einem Kaufmann erwartet. Mehr weiß ich nicht.«
Fidelma erhob sich, nahm eine Münze aus ihrem marsupium und reichte sie Aona.
»Ich denke, deine Kleidung ist jetzt trocken, Ea-dulf«, sagte sie bestimmt.
Aona bedankte sich bei Fidelma, während Eadulf seine Kutte vom Pfosten nahm und in seiner Satteltasche verstaute.
»Soll ich also nach diesen beiden Fremden Ausschau halten, Lady?« fragte Aona. »Soll ich Capa von ihnen Nachricht geben?«
Fidelma lächelte trocken. »Wenn du diese beiden Fremden siehst, Aona, dann brauchst du eher einen Priester als Capa. Sie wurden heute morgen getötet, nachdem sie versucht hatten, meinen Bruder und Fürst Donennach zu ermorden.«
Sie hob die Hand zum Gruß und wandte sich zur Tür, gefolgt von Eadulf.
Als sie aufgesessen waren, sahen sie Aona und seinen Enkel in der Tür stehen und ihnen nachblicken.
»Seid wachsam!« rief sie ihnen zu und lenkte ihr Pferd aus dem Hof heraus auf den Weg nach Imleach.
Eine Weile ritten sie schweigend weiter. Der Weg führte am Nordufer des Ara entlang, und der Himmel verfinsterte sich merklich. Südlich von ihnen zeichnete sich der lange Höhenzug des Slievenamuck gegen den helleren Horizont ab, und vor ihnen versank die Sonne im Westen. Der Weg war gut und verlief fast gerade durch das höhere Gelände hinter der Niederung um den Brunnen von Ara. Nördlich von ihnen erhob sich einige Meilen entfernt ein anderer Höhenzug. Als Eadulf nach seinem Namen fragte, erklärte ihm Fidelma, das seien die Slieve-Felim-Berge, ein rauhes, unwirtliches Gebiet, hinter dem das Land der Ui Fidgente lag.
Die meiste Zeit ritten sie schweigend dahin, denn Eadulf sah, daß Fidelma in Nachdenken versunken war, und er wußte, daß man sie dabei lieber nicht störte. Sicherlich überdachte sie das, was sie erfahren hatten.
Nach ungefähr acht Meilen hob Fidelma plötzlich den Kopf. Die Umgebung kam ihr vertraut vor.
»Ach, jetzt ist es nicht mehr weit. Wir sind gleich da«, erklärte sie zufrieden.
Kurz darauf kamen sie aus dem Wald auf ein offenes, hügliges Gelände hinaus. Eadulf erkannte das große, von einer Steinmauer umgebene Gebäude als die Abtei St. Ailbe. Sie dominierte die kleine Stadt, die sich vor ihr ausbreitete, allerdings in einigem Abstand von den Abteimauern. Umgeben waren Abtei und Stadt von Weideland, das von Eibenwäldern gesäumt wurde. Es waren aber Eiben der irischen Art, deren gebogene Nadeln sie von den Eiben unterschieden, die es in seiner Heimat gab. Die Bäume waren hoch und trugen runde Wipfel. Einige schienen aus mehreren alten verflochtenen Stämmen emporzuwachsen.
»Dies ist Imleach Iubhair«, seufzte Fidelma, »das >Grenzland der Eibenbäume<. Hier herrscht mein Vetter Finguine von Cnoc Äine.«
Die Stadt lag still da. Sie war viel kleiner als Cashel, und sie als Stadt zu bezeichnen schien geschmeichelt.
Doch Fidelma wußte, daß durch die Abtei und ihre Kirche hier ein blühender Markt entstanden war. Der Ort schien verlassen, und sie vermutete, daß alle beim Abendessen saßen. Die Zeit für das Verspergebet war bereits vorüber.
Der Marktplatz war offensichtlich das freie Gelände direkt vor den Toren der Abtei. Auf der entgegengesetzten Seite sah man eine Reihe von Gebäuden, die wohl die Stadt bildeten. Die beiden anderen Seiten waren spärlich bebaut, deshalb schien der Marktplatz zu groß. In der Mitte des freien Platzes stand eine mächtige Eibe, über zwanzig Meter hoch, deren dunkelbraunes Holz und grüne gebogene Nadeln wie eine ehrwürdige Skulptur wirkten. Sie überragte selbst die grauen Mauern der Abtei.
»Na, das ist ein Baum, vor dem man Respekt haben muß«, meinte Eadulf, der sein Pferd gezügelt hatte und ihn betrachtete.
Fidelma wandte sich im Sattel um und lächelte ihrem Begleiter zu. »Weshalb sagst du das, Eadulf? Kennst du diesen Baum?«
»Kennen? Nein, ich sage das nur wegen seiner Größe und seines Alters.«
»Das ist der heilige Totembaum der Eoghanacht. Davon habe ich dir in Cashel erzählt.«
»Ein Totembaum! Was für eine alberne heidnische Vorstellung.«
»Was ist denn das Kruzifix anderes als ein Totem? Jeder Clan und jede Sippe besitzen einen heiligen Baum des Lebens, wie wir ihn nennen. Dies hier ist unserer. Wenn ein neuer König der Eoghanacht in sein Amt eingeführt wird, muß er hierherkommen und unter der großen Eibe den Eid ablegen.«
»Der Baum muß bestimmt ein paar hundert Jahre alt sein.«
»Über tausend Jahre«, erklärte Fidelma stolz. »Er soll von Eber Fionn, dem Sohn des Milesius, von dem die Eoghanacht abstammen, mit eigener Hand gepflanzt worden sein.«
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