»Gut. Morgen wird unser Gästehaus wieder nahezu leer sein.«
»Soll ich heute auch bei jemandem übernachten?« fragte Fidelma zerstreut, während sie sich in der Zelle umschaute.
»Nein, dir habe ich ein eigenes Zimmer reservieren lassen, Fidelma«, versicherte ihr Segdae.
Fidelma betrachtete das Chaos. Sie gab es ungern zu, aber Eadulf hatte vollkommen recht. Bei dem künstlichen Licht war kaum etwas festzustellen.
Wichtige Gegenstände konnten im Schatten verborgen bleiben. Sie seufzte und wandte sich um.
»Wir sehen uns wohl den Raum am besten im Morgenlicht an«, meinte sie, ohne Eadulf dabei anzublik-ken.
»Sehr gut«, stimmte ihr der Abt zu. »Ich sorge dafür, daß niemand etwas anrührt.«
Während er die Zelle verschloß, fragte Fidelma: »Du sagtest, daß die Pilger euer Gästehaus belegen. Halten sich auch andere Reisende dort auf?«
»Nur die Pilger.«
»Niemand anderes?«
»Nein. Ach doch, der Kaufmann Samradan. Den müßtest du kennen. Er kommt aus Cashel.«
»Ich kenne ihn nicht, habe aber gehört, daß mein Vetter Donndubhain ihn kennt. Was kannst du mir über ihn sagen?«
»Ziemlich wenig«, meinte der Abt achselzuckend. »Er treibt Handel mit der Abtei, seit ungefähr zwei Jahren. Ich weiß nur, daß er aus Cashel stammt und oft mit seinen Wagen herkommt. Er ist dann unser Gast.«
Fidelma nickte nachdenklich. »Wagen, sagst du? Wer fährt sie?«
»Er hat drei Gehilfen, aber die bleiben lieber in der Herberge der Stadt außerhalb der Abtei.« Der Abt rümpfte mißbilligend die Nase. »Nicht das beste Haus, es steht in keinem guten Ruf. Es ist keine rechtmäßige Herberge, denn sie hat keine Lizenz vom bo-aire, dem Ortsvorsteher. Ich mußte schon ein- oder zweimal ge-gen die Herbergswirtin vorgehen, eine Frau namens Cred, wegen ihrer lockeren Moral ...«
Fidelma war nicht an der Moral von Frau Cred interessiert und unterbrach ihn: »Seit wann hält sich Samradan diesmal schon bei euch auf?«
Segdae rieb sich die Nase, als helfe dies seinem Gedächtnis nach. »Du scheinst sehr interessiert an diesem Samradan. Steht er irgendwie unter Verdacht?«
Fidelma machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein. Aber ich kenne die meisten Einwohner von Cashel, Samradan jedoch kenne ich nicht. Seit wann ist er in der Abtei, sagst du?«
»Seit ein paar Tagen. Nein, eher wohl seit einer Woche. Du siehst ihn sicher morgen beim Frühstück. Vielleicht sagt er dir, was du wissen mußt. Sollte ich euch jetzt eure Nachtquartiere zeigen?«
Eadulf lächelte erfreut. »Ein guter Vorschlag, Lord Abt. Ich bin erschöpft. Es war ein langer Tag voller Anstrengungen.«
»Nachdem ihr euch erfrischt habt«, fuhr der Abt fort, »werdet ihr euch sicher den Brüdern zum Mitternachtsgottesdienst anschließen wollen.«
Ihm fiel die Leidensmiene des Angelsachsen nicht auf, als er sie weiter einen Gang entlang und über den Hof mit dem Kreuzgang führte.
»Dies ist unser Gästehaus«, sagte er, wies auf eine Tür und klopfte an.
Die kleine, schattenhafte Gestalt, die auf der Schwelle erschien, war an ihrer Silhouette deutlich als weiblich auszumachen.
»Hier ist unsere domina, Schwester Scothnat.«
Eadulf wurde erst jetzt klar, daß die Abtei Imleach ein conhospitae war, ein gemischtes Haus, in dem Mönche und Nonnen gemeinsam wohnten und arbeiteten. Solche »Doppelhäuser« waren bei seinem Volk selten, doch er wußte, daß bei den religiösen Gemeinschaften der Briten und Iren solches Zusammenleben üblich war.
»Dies ist Schwester Fidelma, Scothnat.«
Schwester Scothnat knickste aufgeregt, denn sie wußte, daß Fidelma die Schwester des Königs war.
»Ich habe dein Zimmer fertig, Lady«, verkündete sie atemlos. »Als mir der Abt deine Ankunft mitteilte, habe ich es gleich vorbereitet.«
Fidelma legte Schwester Scothnat leicht die Hand auf den Arm. Normalerweise machte sie unter Nonnen keinen Gebrauch von ihrer Verwandtschaft mit dem König von Muman. Nur wenn sie besondere Autorität benötigte, griff sie darauf zurück.
»Ich heiße Fidelma. Schließlich sind wir alle Schwestern im Glauben, Scothnat.« Sie wandte sich an Segdae und Eadulf. »Dann also bis zum Mitternachtsgottesdienst. Dominus vobiscum.«
»Dominus tecum«, antwortete Segdae feierlich.
Der Abt ging mit Eadulf wieder zurück über den Hof zu einem Gang auf der anderen Seite, wo sie ein hochgewachsener Mönch begrüßte.
»Madagan«, stellte der Abt ihn vor. »Das trifft sich gut, wir suchten dich gerade. Dies ist Bruder Eadulf. Weil diese Nacht die Pilger das Gästehaus belegen, schlage ich vor, daß du ihn in deiner Zelle aufnimmst, denn du hast ja noch ein zweites Bett.«
Bruder Madagan maß Eadulf mit einem forschenden Blick, als wolle er ihn abschätzen. Seine Augen waren kalt, und von seinem Lächeln ging keine Wärme aus.
»Du bist höchst willkommen, Bruder.«
»Gut.« Das Wort paßte nicht zu Segdaes unglücklichem Ton. »Dann sehe ich dich beim Mitternachtsgottesdienst, Bruder Eadulf.« Mit niedergeschlagener Miene verschwand der Abt.
»Ich bin der Verwalter der Abtei«, erklärte Mada-gan vertraulich und führte Eadulf zu einer Tür auf dem Gang. »Meine Zelle ist größer als die meisten anderen, ich hoffe, du findest sie auch bequem.«
Sie enthielt zwei kleine Betten, zwei Tische und einen Stuhl. Auf dem Tisch stand eine Kerze, sonst lag darauf nur ein kleines ledergebundenes Buch. Auf einem zweiten Tisch hinter der Tür befanden sich ein Wasserkrug, eine Schüssel und ein paar Handtücher. Alles war sehr sauber und ordentlich.
Bruder Madagan wies auf eins der Betten: »Das ist dein Lager, Bruder . entschuldige, ich kann deinen angelsächsischen Namen nicht aussprechen, er ist zu schwer für mich.«
»E-a-dulf«, wiederholte Eadulf geduldig.
»Hat er eine Bedeutung?«
»Er bedeutet >edler Wolf<���«, erklärte Eadulf nicht ohne Stolz.
Bruder Madagan rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Ich überlege, wie man das in unsere Sprache übersetzen könnte - vielleicht Conri, König der Wölfe?«
Eadulf schnaufte mißbilligend. »Der Name eines Menschen braucht nicht übersetzt zu werden. Er ist, wie er ist.«
»Da hast du wohl recht«, gab der Verwalter zu. »Darf ich dir sagen, daß du unsere Sprache gut sprichst?«
Eadulf hatte sich zur Probe auf das Bett gesetzt. »Ich habe in Durrow und Tuaim Brecain studiert.«
Madagan war überrascht. »Trotzdem trägst du die Tonsur eines Ausländers?«
»Ich trage die Tonsur des heiligen Petrus«, verbesserte ihn Eadulf mit Bestimmtheit, »so wie sie zum Gedenken an die Dornenkrone unseres Heilands geschnitten wird.«
»Aber das ist nicht die Tonsur, die wir in den fünf Königreichen tragen oder die Briten oder die Männer von Alba und Armorica.«
»Es ist die Tonsur aller derer, die der Regel Roms folgen.«
Bruder Madagan zog eine säuerliche Miene. »Du bist stolz auf deine Tonsur, Edler Wolf der Angelsachsen«, bemerkte er.
»Ich möchte keine andere tragen.«
»Natürlich nicht. Nur wirkt sie auf die Brüder hier absonderlich.«
Eadulf wollte das Gespräch schon abbrechen, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. »Aber du mußt sie doch schon oft gesehen haben«, entgegnete er langsam.
Bruder Madagan goß gerade Wasser zum Händewaschen in eine Schüssel. Er wandte sich zu Eadulf um und schüttelte den Kopf. »Die Tonsur des heiligen Petrus? Das kann ich nicht sagen. Ich habe Im-leach kaum jemals verlassen, bin hier in der Nähe am Hang des Cnoc Loinge geboren, im Süden von hier. Sie nennen ihn den Schiffsberg, weil er die Form hat.«
»Wenn du sie noch nie gesehen hast, wie würdest du dann die Tonsur Bruder Mochtas beschreiben?« wollte Eadulf wissen.
Bruder Madagan zuckte verwundert die Achseln. »Wie ich die beschreiben würde?« wiederholte er langsam. »Ich verstehe dich nicht.«
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