Eadulf war sich dieser Tatsache schmerzhaft bewußt und versuchte sein Bestes, sich seine Sorge um Fidelma nicht anmerken zu lassen, denn er wußte, daß sie das nicht billigte.
»Wenn ich mich an diesen Ort richtig erinnere, dann ist es weniger als eine Meile weit in dieser Richtung«, meinte er und zeigte den Weg entlang.
Der Wald war hier so dicht, daß wenig Schnee auf die Wege gefallen war, die ihn kreuz und quer durchzogen. Teils aus Erinnerung und teils aus Instinkt verfolgte Eadulf den Weg und kreuzte alle Pfade, die sie hätten von der südöstlichen Richtung abbringen können, an die er sich hielt.
Ab und zu blieben sie stehen, denn Fidelma setzte die nächtliche Kälte immer mehr zu. Das Vorwärts -kommen im Wald war nicht leicht. Sie hörten Tiere um sie herumstreifen und gelegentlich das kurze, schnelle Bellen von Füchsen. Der Weg führte zu einem Bach und an seinem Ufer entlang um einen großen Hügel herum, auf dem die überwachsenen Erdwerke einer alten Befestigung standen. Bäume und Unterholz darauf verhüllten sie fast gänzlich.
Plötzlich kamen sie an den Rand einer Lichtung. Darauf erhoben sich mehrere Gebäude aus Holz, und aus einigen von ihnen stieg Rauch auf.
Eadulf wandte sich triumphierend zu Fidelma um, wenn man auch bei genauer Betrachtung festgestellt hätte, daß die Erleichterung in seinen Augen überwog.
»Tunstall. Das ist Tunstall. Wir sind in Sicherheit.«
Fidelma, der die eisige Luft der Abenddämmerung fast den Atem nahm, konnte nur nicken.
Ein Warnruf erscholl von der Lichtung her. Man hatte sie bemerkt. Mehrere Männer kamen aus den Gebäuden hervor, die meisten trugen Mönchskutten und die Tonsur des heiligen Johannes.
Als Eadulf und Fidelma auf das vermutlich größte Gebäude auf der Lichtung zuschritten, fiel Eadulf eine kleine Gruppe von Kriegern auf. Es waren offensichtlich keine Angelsachsen, und Eadulf stellte mit Befriedigung fest, daß er recht gehabt hatte. Er zweifelte nicht daran, daß dies Garbs Männer waren. Sein Herz schlug schneller in der Erwartung, daß nun das Geheimnis um den Tod seines Freundes Botulf bald aufgedeckt werden würde.
Er blieb stehen, denn einer der Krieger stieß einen Ruf aus und lief mit erhobenem Schwert auf ihn zu.
Auch ein Mönch rannte los, als wolle er den Krieger abfangen, der eine Schwertlänge vor Eadulf stehenblieb. Zu seiner Überraschung sah Eadulf, daß sein Gegenüber Garb selbst war.
»Tritt zurück, Bruder«, rief Garb auf irisch dem Mönch zu, der neben ihm stand und verblüfft dreinschaute. »Dieser Mann ist einer aus Cilds übler Brut. Ich erkenne ihn wieder. Er war in Cilds Abtei, als ich das Ultimatum verkündete. Das bedeutet, daß dieser mörderische Abt unsere Spur verfolgt hat. Tritt zurück, damit ich ihn töten kann, und dann müssen wir diesen Ort verlassen.«
»Steck dein Schwert ein, Garb von Maigh Eo! Wir gehören nicht zu Abt Cilds Gemeinschaft«, fuhr ihn Eadulf an.
Garb lachte höhnisch und ungläubig. »Ich sah dich unter den Mönchen, Angelsachse. Du bist ein Lügner!«
»Er lügt nicht!« Rasch war Fidelma zwischen Eadulf und den Krieger aus Connacht getreten und hatte die Hand gehoben. »Ich bin Fidelma von Cashel. Steck dein Schwert ein, Garb. Du willst doch nicht unschuldige Menschen töten!«
Garb hatte schon mit dem Schwert ausgeholt und zögerte jetzt verwirrt.
»Ich sage, steck dein Schwert ein«, befahl Fidelma noch einmal, »wenn du nicht eine Anwältin der Gesetze der Fenechus und Tochter eines Königs töten willst.«
Der Krieger musterte sie genau. Dann ließ er langsam das Schwert sinken.
»Du sagst, du bist Fidelma von Cashel?« Jetzt sprach der Mönch neben ihm. »Bist du die dalaigh Fidelma , die Anwältin, die den rätselhaften Diebstahl des Schwerts des Großkönigs aufklärte?«
»Ich bin die dalaigh Fidelma«, bestätigte sie ohne Zusatz.
Der Mönch betrachtete sie nun mit einer Mischung von Überraschung und Ehrfurcht. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit grauem Haar und irischer Tonsur. Er sah noch sehr gut aus, mit befehlsgewohnter Miene, dunklen Augen und festem Mund.
»Bist du Fidelma, die Schwester des Königs Colgü?«
»Das bin ich.«
»Was machst du dann hier an diesem Ort und mit diesem Angelsachsen?« fragte Garb barsch. Er hatte das Schwert gesenkt, hielt es aber noch blank in der Hand. »Ich sah ihn erst vor zwei Tagen in der Abtei, die Cild leitet. Wie kann er da behaupten, er gehöre nicht zu Cilds Leuten?«
»Ich war auch in der Abtei, Garb«, sagte sie zu ihm. »Bruder Eadulf ist mein Gefährte und Abgesandter des Erzbischofs Theodor von Canterbury. Wir waren als Gäste dort und am Abend zuvor angekommen. Ich war krank, und Bruder Eadulf nahm an der Beisetzung seines Freundes Bruder Botulf teil, als du deinen ungewöhnlichen Auftritt hattest.«
Garb runzelte die Stirn. »War Botulf euer Freund?«
»Er war Bruder Eadulfs Freund«, bestätigte Fidelma.
»Du solltest nun vielleicht mit deinem Kopf denken und nicht mit deiner Schwerthand.«
Garb blieb mißtrauisch.
»Was wollt ihr hier? Hat Cild euch geschickt?«
Fidelma machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Natürlich nicht. Wir wurden in der Abtei gefangengehalten. Cild plante, mich hinrichten zu lassen, und wir hielten es für klüger, das nicht abzuwarten. Wegen der Worte über Botulf, die du in der Kapelle der Abtei zu Cild sagtest, gingen wir auf die Suche nach dir. Du warst nicht schwer zu finden.«
Der Mönch kam nun mit ausgestreckten Händen auf sie zu und achtete nicht auf den mürrischen Krieger.
»Ich bin Bruder Laisre. Ich leite diese kleine religiöse Gruppe hier und begrüße dich, Fidelma von Cashel. Sei willkommen in Tunstall. Das gilt auch für deinen Gefährten. Gehen wir hinein ans Feuer, da kannst du uns deine Geschichte erzählen und was dich hierhergeführt hat.«
Sie folgten Bruder Laisre in eins der Holzhäuser, und Garb ging mit. Das Schwert hatte er in die Scheide gesteckt, betrachtete aber Eadulf immer noch mit drohenden Blicken. Die Wärme im Gebäude bildete einen erfreulichen Gegensatz zu der Abendkälte draußen. Offensichtlich wurde die Abendmahlzeit zubereitet, denn mehrere Mönche waren damit beschäftigt, und ein aromatischer Duft stieg von dem dampfenden Suppenkessel über dem Feuer auf.
»Ihr seid unsere Gäste, solange es euch gefällt, Fidelma von Cashel«, sagte Bruder Laisre lächelnd. Er wandte sich an Eadulf und begann seine Worte ins Sächsische zu übersetzen, doch Eadulf unterbrach ihn ungeduldig.
»Ich habe auf der Insel der fünf Königreiche studiert«, sagte er knapp. »Ich spreche deine Sprache fließend.«
Bruder Laisre sah erleichtert aus.
»Es ist gut, wenn man eine Sprache gemeinsam hat«, meinte er und lud sie zum Sitzen ein.
Fidelma schaute sich um und bemerkte das kleine scriptorium am anderen Ende des Raumes. Das Gebäude diente anscheinend als Speiseraum und Bibliothek für die ganze Gemeinschaft.
»Es überrascht mich, daß es noch eine Gemeinschaft in diesem Land gibt, die an dem Ritual unserer Kirche festhält, Bruder Laisre«, erklärte sie. »Ich dachte, nach dem Beschluß von Whitby, bei dem sich die Angeln und Sachsen für die Regeln von Rom entschieden, hätten alle unsere Geistlichen deren Länder verlassen.«
Bruder Laisre schmunzelte. »Einige von uns entschlossen sich, nicht nachzugeben ohne den Versuch, ein paar unserer Grundsätze zu bewahren. Ja, ich weiß, nach der Synode von Whitby führte Abt Col-man viele der irischen Missionare und alle die Angelsachsen, die der gleichen Meinung waren, auf die Insel der Weißen Kuh - Inis Bo Fin - vor der Küste von Connacht. Manche von ihnen - hauptsächlich die Angeln und Sachsen - gründeten ein anderes Zentrum auf dem Festland, das >Maigh Eo der Angelsachsen« heißt. Doch wir weigerten uns, Colman zu folgen, uns aus diesem Land zurückzuziehen und die Niederlage unserer Sache einzugestehen. Also sind wir hiergeblieben als Missionare aus den fünf Königreichen und bemühen uns, die große Wahrheit zu verbreiten.«
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