Selbst inmitten solch allgemeiner Zurückhaltung wirkte Ciceros Haus besonders karg. Es war ironischerweise so unauffällig, daß es einem schon wieder ins Auge fiel - dort, so könnte man meinen, dort steht die ideale Wohnstatt für einen wohlhabenden Römer von äußerst seltener römischer
Tugendhaftigkeit. Das kleine Haus sah so schmal und bescheiden aus, daß man es für die Behausung einer vormals reichen römischen Matrone hätte halten können, die jetzt als Witwe zu einer bescheideneren Lebensführung gezwungen war; oder vielleicht das Stadthaus eines vermögenden Bauern vom Lande, der nur gelegentlich geschäftlich in der Stadt zu tun hatte und bestimmt nie Urlaub machte; oder aber (und so war es in der Tat) ein solch bescheidenes Haus in einer so unauffälligen Straße gehörte einem Junggesellen mit erheblichen Mitteln und altmodischen Wertvorstellungen, ein in die Stadt gezogener Sohn auf dem Lande lebender Eltern, der sich aufgemacht hatte, sein Glück in den besseren Kreisen Roms zu machen, ein junger Mann von strenger römischer Tugend, der so selbstbewußt war, daß nicht einmal seine Jugend und sein Ehrgeiz ihn zu vulgären modischen Fehltritten verlocken konnten.
Tiro klopfte an die Tür.
Kurz darauf wurde sie von einem Sklaven mit grauem Bart geöffnet. Der Alte hatte wohl eine Art Schüttellähmung, denn sein Kopf war in ständiger Bewegung, wackelte auf und ab und von links nach rechts und zurück. Es brauchte eine Weile, bis er Tiro erkannt hatte, wobei er linste und blinzelte und seinen Kopf mit dem schlanken Hals vorstreckte wie eine Schildkröte. Das Nicken hörte gar nicht auf. Schließlich lächelte er ein zahnloses Lächeln, trat zur Seite und riß die Tür weit auf.
Das Foyer war halbkreisförmig angelegt, wobei sich die gerade Wand in unserem Rücken befand. In der geschwungenen Wand vor uns waren drei Türen, jeweils flankiert von schmalen Säulen und von einem Giebel gekrönt. Die dahinter liegenden Korridore wurden von prächtigen roten Vorhängen verdeckt, deren Saum kunstvoll mit einem gelben Akanthus-Motiv bestickt war. Griechische Stehlampen in beiden Ecken und ein nicht sonderlich originelles Bodenmosaik (Diana auf der Jagd nach einem Eber) vervollständigten die Inneneinrichtung. Es war genau, was ich erwartet hatte. Die Vorhalle war ähnlich zurückhaltend und geschmackvoll eingerichtet, um einen Gegensatz zu der strengen Fassade zu vermeiden, und doch so teuer ausgestattet, daß sich jeder Gedanke an Armut von vornherein verbot.
Der alte Türsteher machte uns ein Zeichen zu warten. Schweigend und lächelnd verschwand er hinter dem Vorhang, der die Tür zu unserer Linken verhängte. Dabei hüpfte sein verschrumpelter Kopf auf und ab wie ein Korken auf seichten Wellen.
»Ein altes Familienfaktotum?« fragte ich. Ich wartete, bis er außer Sicht war und hielt meine Stimme gesenkt. Der Alte hatte offensichtlich bessere
Ohren als Augen, denn er hatte unser Klopfen sehr wohl gehört, so daß es unhöflich gewesen wäre, in seiner Gegenwart über ihn zu reden, als ob er ein Sklave wäre, was er nicht war. Ich hatte an seinem Finger den Ring bemerkt, der ihn als Freigelassenen und Bürger kenntlich machte.
»Mein Großvater«, sagte Tiro mit mehr als nur ein wenig Stolz in der Stimme. »Marcus Tullius Tiro.« Er reckte seinen Hals und blickte zur Tür, als könne er durch den roten Vorhang sehen und den trippelnden Gang des alten Mannes den Flur hinunter beobachten. Ein Luftzug hob den bestickten Saum kurz an. Daraus schloß ich, daß die Tür zur Linken irgendwie an die frische Luft führen mußte, wahrscheinlich zum Atrium im Zentrum des Hauses, wo es sich Meister Cicero vermutlich in der Morgenhitze bequem machte.
»Dann dient deine Familie seit mindestens drei Generationen im Haushalt der Tullii?« sagte ich.
»Ja, obwohl mein Vater bereits starb, als ich noch sehr klein war, so daß ich ihn nie richtig kennengelernt habe. Genausowenig wie meine Mutter. Der alte Tiro ist alles, was ich an Familie habe.«
»Und wie lange ist es her, daß dein Herr ihn freigelassen hat?« fragte ich, weil es Ciceros Vor- und Familienname war, den der alte Mann zusätzlich zu seinem angestammten Sklavennamen trug. Es ist Tradition, daß ein freigelassener Sklave die ersten beiden Namen des Mannes übernimmt, der ihm die Freiheit schenkt, und sie vor seinen eigenen stellt.
»Das ist jetzt fünf Jahre her. Bis dahin gehörte er Ciceros Großvater in Arpinum. Auch ich gehörte ihm, obwohl ich seit meiner Kindheit bei Cicero bin. Der alte Herr hat Cicero die Eigentumsrechte übertragen, als Geschenk zum Abschluß seines Studiums und seinem ersten eigenen Haushalt hier in Rom. Damals hat Cicero ihn auch freigelassen. Ciceros Großvater hätte sich nie die Mühe gemacht. Er glaubt nicht an die Freilassung, egal wie alt ein Sklave ist und wie lange und gewissenhaft er seinem Herrn gedient hat. Die Tullius-Familie mag ja aus Arpinum stammen, aber sie sind römisch bis ins Mark, eine sehr strenge und altmodische Familie.«
»Und du?«
»Ich?«
»Glaubst du, daß Cicero dich auch eines Tages freilassen wird?«
Tiro lief rot an. »Du stellst die merkwürdigsten Fragen, Herr.«
»Das ist nun mal meine Art. Und mein Beruf. Du mußt dir diese Frage doch schon selbst gestellt haben, mehr als einmal.«
»Tut das nicht jeder Sklave?« In Tiros Stimme lag keine Bitterkeit, nur ein blasser, unaufdringlicher Ton der Trauer, eine ganz spezielle Melancholie, die mir schon früher begegnet war. In diesem Augenblick wurde mir klar, daß der junge Tiro einer jener Sklaven war, die, weil sie über eine natürliche Intelligenz verfügten und inmitten von Wohlstand aufgewachsen waren, den Fluch der Erkenntnis zu tragen hatten, wie willkürlich und kapriziös die Launen des Schicksals sein konnten, die einen Menschen ein Leben lang zum Sklaven machten und einen anderen zum König, obwohl es zunächst keinen erkennbaren Unterschied zwischen beiden gab. »Eines Tages«, sagte er leise, »wenn mein Herr sich etabliert hat und ich älter bin. Welchen Sinn hat es überdies, frei zu sein, wenn man keine Familie gründen will? Das ist der einzige Vorteil, den ich sehen kann. Und das ist etwas, worüber ich nicht nachdenke. Jedenfalls nicht oft.«
Tiro wandte sein Gesicht ab und blickte zu der Tür, wo sein Großvater hinter dem Vorhang verschwunden war. Dann sah er mich an, seine Miene wieder unter Kontrolle. Ich brauchte eine Weile, bis ich bemerkte, daß er lächelte. »Außerdem«, sagte er, »es ist besser zu warten, bis mein Großvater stirbt. Sonst gibt es zwei Freigelassene mit dem Namen Marcus Tullius Tiro, und wie würde man uns dann auseinanderhalten ?«
»Wie hält man euch jetzt auseinander?«
»Ich bin Tiro, und er ist natürlich der alte Tiro.« Sein Lächeln wurde aufrichtiger. »Großvater reagiert nicht auf den Namen Marcus. Er glaubt, daß es Unglück bringt, wenn man ihn so nennt. Eine Versuchung der Götter. Außerdem ist er zu alt, sich an einen neuen Namen zu gewöhnen, obwohl er sehr stolz darauf ist. Es ist sowieso zwecklos, ihn zu rufen. Er geht nur noch an die Tür, und das kann ziemlich lange dauern. Ich glaube, meinem Herrn gefällt das. Cicero hält es für ein Zeichen guter Manieren, Gäste an der Tür warten zu lassen, und ein Ausdruck noch besserer Manieren, sie hier im Vorraum auf und ab marschieren zu lassen, während der alte Tiro sie anmeldet, zumindest bei ihrem ersten Besuch.«
»Ist es das, worauf wir im Moment warten? Angemeldet zu werden?«
Tiro verschränkte die Arme und nickte. Ich sah mich in dem Raum um. Es gab nicht einmal eine Bank, auf die man sich hätte setzen können. Überaus römisch, dachte ich.
Nach einer ganzen Weile kam der alte Tiro schließlich zurück und hob den Vorhang für seinen Herrn. Wie soll ich Marcus Tullius Cicero beschreiben? Die Schönen sehen alle gleich aus, aber ein häßlicher Mann ist auf ganz eigene Weise häßlich. Cicero hatte eine ausgeprägte Stirn, eine fleischige Nase, und sein Haar lichtete sich. Er war mittelgroß mit einer schmächtigen Brust, schmalen Schultern und einem langen Hals mit kräftigem Adamsapfel. Er sah wesentlich älter aus als sechsundzwanzig.
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