Ein junges Mädchen riß die Tür weit auf, so daß ich den ganzen Raum einsehen konnte. Ein altes Weib saß in Decken gehüllt in einer Ecke. Ein kleiner Junge kniete am offenen Fenster. Er blickte sich über die Schulter nach mir um und beobachtete dann weiter die Straße. Abgesehen von Größe und Form sah das Zimmer völlig verändert aus.
Aus den Decken musterten mich zwei wäßrige Augen. »Wer ist da, Kind?«
»Ich weiß nicht, Großmutter.« Das kleine Mädchen starrte mich argwöhnisch an.
»Was wollen Sie?«
Das kleine Mädchen setzte ein ärgerliches Gesicht auf. »Meine Großmutter möchte wissen, was du hier willst?«
»Polia«, sagte ich.
»Nicht da«, sagte der Junge vom Fenster.
»Dann muß ich mich in der Tür geirrt haben.«
»Nein«, sagte das kleine Mädchen verärgert. »Die richtige Tür. Aber sie ist nicht mehr hier.«
»Ich meine die junge Witwe und ihren Sohn, den kleinen, stummen Jungen.«
»Ich weiß«, sagte sie und sah mich an, als ob ich beschränkt wäre. »Aber Polia und Eco wohnen hier nicht mehr. Zuerst ist sie verschwunden, dann er.«
»Weg«, ergänzte die Alte. »So haben wir endlich dieses Zimmer gekriegt. Vorher haben wir gegenüber gewohnt, aber hier ist mehr Platz. Genug für uns alle fünf - meinen Sohn, seine Frau und die beiden Kleinen.«
»Mir gefällt es besser, wenn Mama und Papa nicht da sind und wir nur zu dritt sind«, sagte der Junge.
»Halt den Mund, Appius«, fuhr ihn das Mädchen an. »Eines Tages werden Mama und Papa ausgehen und nie wiederkommen, genau wie bei dem kleinen Eco. Sie verschwinden einfach, wie Polia. Du wirst sie mit deinem dauernden Geschrei noch vertreiben. Dann werden wir ja sehen, wie dir das gefällt.«
Der kleine Junge fing an zu weinen. Die alte Frau schnalzte mit der Zunge. »Was soll das heißen?« sagte ich. »Polia ist verschwunden, ohne den Jungen mitzunehmen?«
»Ja, sie hat ihn verlassen«, sagte die alte Frau gleichgültig.
»Das glaube ich nicht.«
Sie zuckte die Schultern. »Konnte die Miete nicht bezahlen. Der Vermieter hat ihr zwei Tage zum Ausziehen gegeben. Am nächsten Morgen war sie weg. Hat alles mitgenommen, was sie tragen konnte, und hat den Jungen sich selbst überlassen. Am nächsten Tag kam der Vermieter, sammelte die wenigen Habseligkeiten ein und setzte den Jungen auf die Straße. Eco hat danach noch ein paar Tage hier herumgelungert. Er hat den Leuten leid getan, und sie haben ihm ein paar Brocken zu essen gegeben. Schließlich haben ihn die Wächter endgültig verscheucht. Bist du ein Verwandter von ihnen?«
»Nein.«
»Naja, wenn Polia dir noch Geld geschuldet hat, vergißt du das wohl besser.«
»Wir konnten sie sowieso nicht leiden«, sagte das kleine Mädchen. »Eco war dumm. Konnte kein Wort reden, selbst wenn Appius ihn festgehalten und sich auf ihn gesetzt hat, damit ich ihn kitzeln konnte, bis er blau anlief. Er hat nur gequiekt wie ein Schwein.«
»Wie ein Schwein, das gepiekst wird«, sagte der kleine Junge, der jetzt nicht mehr weinte, sondern auf einmal fröhlich lachte. »Hat mein Papa gesagt.«
»Seid still«, knurrte die alte Frau, »alle beide.«
*
Im Haus der Schwäne herrschte für die mittägliche Stunde lebhafter Betrieb. Der Besitzer machte die leichte Wetterveränderung dafür verantwortlich. »Die Hitze stachelt sie alle an, bringt das Blut in Wallung - aber zuviel Hitze läßt selbst den kräftigsten Mann erschlaffen. Jetzt, wo das Wetter zumindest wieder erträglich ist, kommen sie scharenweise zurück. All die angestauten Säfte. Und du bist sicher, daß du kein Interesse an der Nubierin hast? Sie ist neu, mußt du wissen. Ah!« Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ein großer, gutgekleideter Mann aus dem inneren Flur in die Halle kam. Der Seufzer bedeutete, daß Elektra nicht länger belegt war und mich jetzt empfangen konnte, was hieß, daß der Fremde ihr letzter Kunde gewesen sein mußte. Er war ein gutaussehender Mann mittleren Alters mit graumelierten Schläfen. Er nickte unserem gemeinsamen Gastgeber kurz zu und schenkte ihm ein mattes, gezwungenes Lächeln der Befriedigung. Ich empfand ein törichtes Zucken der Eifersucht und sagte mir, daß er wahrscheinlich mit geschlossenem Mund lächelte, weil er schlechte Zähne hatte.
In einem perfekt geführten Haus dieser Art hätten wir uns als aufeinanderfolgende Freier derselben Hure nie begegnen dürfen, aber ein perfekt geführtes Haus dieser Art gab es nicht. Unser Gastgeber besaß zumindest den Anstand, sich zwischen uns beide zu stellen und erst dem Fremden zum Abschied zuzunicken, bevor er sich wieder zu mir umdrehte.
Sein breiter Körper gab einen beachtlichen Sichtschutz ab. »Nur noch einen Augenblick«, sagte er leise, »während die Dame sich ein wenig zurechtmacht.« Er ließ mich einen Moment allein und kehrte dann salbungsvoll lächelnd zurück. »Alles bereit«, sagte er und winkte mich in den Flur.
Elektra war noch immer genauso eindrucksvoll, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber um ihre Augen und den Mund hatte sich eine Müdigkeit gelegt, die einen Schatten auf ihre Schönheit warf. Sie saß auf dem Sofa, die Hände um ihr angewinkeltes Knie verschränkt, den Kopf mit ihrem wallenden schwarzen Haar auf ein Kissen gestützt. Zunächst erkannte sie mich nicht, was mir einen kleinen Stich der Enttäuschung versetzte. Dann leuchteten ihre Augen ein wenig auf, und sie fuhr sich kokett mit der Hand durch das Haar, als wolle sie ihre Frisur richten. Ich schmeichelte mir mit dem Gedanken, daß es ihr bei einem anderen Mann egal gewesen wäre, wie sie aussah, und fragte mich im selben Augenblick, ob das einer ihrer subtilen Tricks war, die sie bei jedem Mann anwandte.
»Du wieder«, sagte sie, noch immer schauspielernd, mit derselben glutvollen Stimme, mit der sie jeden hätte ansprechen können. Und dann ließ sie, als ob ihr endlich eingefallen wäre, warum ich schon einmal bei ihr gewesen war und wonach ich gesucht hatte, die Maske fallen und warf mir einen Blick von solcher nackter Verletzlichkeit zu, daß ich zitterte. »Diesmal bist du allein gekommen?«
»Ja.«
»Ohne deinen schüchternen, kleinen Sklaven?« Eine Spur Verruchtheit kehrte in ihre Stimme zurück, nicht einstudiert, sondern verspielt und heiter.
»Nicht nur schüchtern, sondern auch ungezogen. Meint jedenfalls sein Herr. Und zu beschäftigt, um mich heute zu begleiten.«
»Aber ich dachte, er gehört dir.«
»Nein.«
Ihr Gesicht wirkte auf einmal wieder ganz nackt. »Dann hast du mich angelogen.«
»Hab ich das? Nur darüber.«
Sie zog auch das andere Bein an ihre Brust, als wolle sie sich vor mir verstecken. »Warum bist du heute gekommen?«
»Um dich zu sehen.«
Sie lachte und zog eine Braue hoch. »Und gefällt dir, was du siehst?« Ihre Stimme klang wieder tief und falsch. Sie blieb genauso sitzen, aber ihre Pose wirkte auf einmal eher kokett als schutzbedürftig. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, war sie mir stark und ursprünglich sinnlich vorgekommen, fast unzerstörbar. Ein Teil von mir hatte die Vorstellung, sie wiederzusehen, sehr erregend gefunden; aber jetzt tat mir ihre Schönheit irgendwie weh.
Sie zitterte und wandte den Blick ab. Die winzige Bewegung teilte ihr Gewand in Höhe der Schenkel. Auf der blassen, glatten Haut zeichnete sich ein schmaler Streifen ab, rot an den Rändern, violett in der Mitte. Irgend jemand hatte sie dort erst kürzlich geschlagen, denn der Striemen war noch nicht voll entwickelt. Der lächelnde Patrizier mit dem arroganten Gehabe fiel mir wieder ein.
»Hast du Elena gefunden?« Elektras Stimme hatte sich wieder verändert. Jetzt klang sie heiser. Sie hielt ihr Gesicht abgewandt, aber ich konnte es im Spiegel sehen.
»Nein.«
»Aber du hast herausgefunden, wer sie abgeholt hat und wohin.«
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