Sie bemerkten es beide. Tiro blickte erstaunt auf. Cicero lachte leise.
»Gordianus ist schockiert. Er ist nicht an unsere Umgangsformen gewöhnt, Tiro, oder an deine Manieren. Es ist in Ordnung, Gordianus. Tiro weiß, daß ich mittags nie esse. Er ist es gewohnt, ohne mich anzufangen. Bitte, bedien dich. Der Käse ist recht gut, direkt aus einer Molkerei in Arpinum und mit den besten Wünschen meiner Großmutter hierher gesandt.
Was mich angeht, werde ich nur einen Schluck Wein zu mir nehmen. Nur ein wenig: bei der Hitze schlägt er mir sonst garantiert auf den Magen. Bin ich der einzige, der an dieser speziellen Krankheit leidet? Ich kann den ganzen Hochsommer über nichts essen; manchmal faste ich tagelang. In der Zwischenzeit, während dein Mund mit Essen statt mit Hochverrat beschäftigt ist, habe ich vielleicht eine Chance, etwas näher zu erläutern, warum ich dich hergebeten habe.«
Cicero nahm einen Schluck und verzog leicht das Gesicht, als würde ihm schon in dem Moment übel, in dem der Wein seinen Gaumen berührte. »Wir sind schon vor einiger Zeit vom Thema abgekommen, oder nicht? Was wohl Didotus dazu sagen würde, Tiro? Wofür bezahle ich diesen alten Griechen seit Jahren, wenn ich es nicht einmal zu Hause schaffe, ein wohlgeordnetes Gespräch zu führen? Ungeordnete Rede ist nicht nur unschicklich, sie kann am falschen Ort und zur falschen Zeit sogar tödlich sein.«
»Ich war mir nie ganz im klaren darüber, was eigentlich das Thema unseres Geprächs war, werter Cicero. Ich meine, mich zu erinnern, daß wir die Ermordung des Vaters von irgend jemandem geplant haben. Meines Vaters oder Tiros? Nein, die sind ja beide schon tot. Vielleicht deines Vaters?«
Das fand Cicero nicht komisch. »Ich habe ein hypothetisches Modell in den Raum gestellt, Gordianus. Ich wollte nur deine Meinung bezüglich einiger Faktoren hören - methodisches Vorgehen, Praktikabilität, Plausibilität - im Zusammenhang mit einem sehr realen und tödlichen Verbrechen. Einem Verbrechen, das bereits begangen worden ist. Es ist leider eine tragische Tatsache, daß ein gewisser Bauer aus dem Dörfchen Ameria -«
»Der jenem hypothetischen Bauern, den du mir eben beschrieben hast, ähnelt?«
»Bis aufs Haar. Wie ich gerade sagen wollte, vor fast acht Monaten wurde in den Straßen Roms ein gewisser Bauer aus Ameria in einer Vollmondnacht an den Iden des September ermordet. Seinen Namen scheinst du bereits zu kennen: Sextus Roscius. In heute genau acht Tagen - an den Iden des Mai -wird der Prozeß gegen seinen Sohn eröffnet, der angeklagt ist, die Ermordung seines Vaters geplant zu haben. Ich habe seine Verteidigung übernommen.«
»Bei einer solchen Verteidigung ist der Ankläger überflüssig, sollte man meinen.«
»Was soll das heißen?«
»Nach allem, was du gesagt hast, scheint es offenkundig, daß du den Sohn für schuldig hältst.«
»Unsinn! War ich so überzeugend? Das sollte mich wohl freuen. Ich wollte dir nur eine Vorstellung von dem Bild geben, das seine Ankläger zeichnen könnten.«
»Willst du etwa sagen, du glaubst, dieser Sextus Roscius ist unschuldig?«
»Natürlich! Warum sollte ich ihn sonst gegen diese haarsträubenden Anschuldigungen verteidigen?«
»Cicero, ich kenne genug Advokaten und Redner, um zu wissen, daß sie nicht notwendigerweise an die Sache glauben müssen, die sie vertreten. Genausowenig wie sie einen Mann für unschuldig halten müssen, um seine Verteidigung zu übernehmen.«
Plötzlich starrte mich Tiro wütend quer über den Tisch an.
»Du hast kein Recht, so zu sprechen«, sagte er mit einem kleinen Kiekser in der Stimme. »Marcus Tullius Cicero ist ein Mann von allerhöchsten Prinzipien und unzweifelhafter Integrität, ein Mann, der sagt, was er denkt, und jedes Wort glaubt, das er sagt, was heutzutage in Rom vielleicht selten ist, aber trotzdem -«
»Das reicht!« Ciceros Stimme klang ungeheuer kräftig, aber nicht besonders zornig. Er hob die Hand in der typischen Rhetorengeste Haltet ein!, schien dabei jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken zu können.
»Du mußt dem jungen Tiro verzeihen«, sagte er und beugte sich mit einem Anflug von Vertraulichkeit näher zu mir. »Er ist ein loyaler Diener, und dafür bin ich dankbar. Das ist heutzutage selten genug.« Er sah Tiro voller Zuneigung an, offen, ehrlich und ohne Scham. Tiro fand es auf einmal angemessen, woanders hinzusehen - auf den Tisch, das Tablett und zu dem sanft wogenden Vorhang.
»Aber vielleicht ist er manchmal auch ein wenig zu loyal. Was meinst du, Gordianus? Was denkst du, Tiro - vielleicht sollten wir dieses Thema Diodotus bei seinem nächsten Besuch vorschlagen und sehen, was der Meister der Redekunst daraus macht. Ein durchaus passendes Stück für eine gelehrte Debatte: Kann ein Sklave seinem Herrn gegenüber zu loyal sein? Will sagen, zu enthusiastisch in seiner Hingabe, zu bereitwillig in der Verteidigung seines Herrn?«
Ciceros Blick streifte das Tablett, und er nahm sich ein Stück getrockneten Apfel. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und betrachtete es, als überlegte er, ob seine empfindliche Konstitution in der Mittagshitze einen so winzigen Happen vertragen konnte. Es entstand ein Schweigen, nur unterbrochen vom Gezwitscher eines Vogels draußen im Atrium. In der Stille schien der Raum um uns herum erneut zu atmen oder es zumindest zu versuchen, er rang vergeblich um einen Hauch frischer Luft; der Vorhang bauschte sich zögernd nach innen und wieder nach außen, nie weit genug, um wirklich ein Lüftchen in der einen oder anderen Richtung durchzulassen, als sei der Wind ein warmes und greifbares Wesen, das sich in dem bestickten Saum verheddert hatte. Cicero runzelte die Stirn und legte das Apfelstückchen wieder auf das Tablett zurück.
Plötzlich gab der Vorhang ein vernehmbares Schnalzen von sich. Ein Hauch warmer Luft strömte über die Fliesen und meine Füße. Der Raum hatte seinen zurückgehaltenen Seufzer endlich getan.
»Du fragst, ob ich Sextus Roscius des Mordes an seinem Vater für schuldig halte?« Cicero spreizte seine Finger und preßte die Spitzen gegeneinander. »Die Antwort lautet nein. Wenn du ihn kennenlernst, wirst du ebenfalls von seiner Unschuld überzeugt sein.«
Offenbar sollten wir jetzt endlich zur Sache kommen. Ich hatte auch langsam genug von den Spielchen in Ciceros Arbeitszimmer, genug von dem gelben Vorhang und der drückenden Hitze.
»Wie genau ist er ums Leben gekommen, der alte Herr? Knüppel, Messer, Steine? Wie viele Angreifer? Gab es Zeugen? Hat man die Täter identifiziert? Wo hielt sich der Sohn zum Zeitpunkt der Tat genau auf, und wie hat er davon erfahren? Wer hatte sonst noch Grund, den Alten umzubringen? Wer führt die Anklage gegen seinen Sohn und warum?« Ich machte eine kurze Pause, allerdings nur um einen Schluck Wein zu nehmen. »Und noch etwas -«
»Gordianus«, sagte Cicero lachend, »wenn ich all das wüßte, müßte ich deine Dienste wohl kaum in Anspruch nehmen, oder?«
»Aber ein bißchen mußt du doch wissen.«
»Mehr als ein bißchen, aber noch immer nicht genug. Nun gut, zumindest deine letzte Frage kann ich beantworten. Die Anklage ist eingebracht worden von einem Anwalt namens Gaius Erucius. Wie ich sehe, hast du schon von ihm gehört - oder ist dir der Wein im Mund zu Essig geworden?«
»Ich habe mehr als nur von ihm gehört«, sagte ich. »Hin und wieder habe ich sogar schon für ihn gearbeitet, aber nur, weil ich hungrig war. Erucius wurde als Sklave auf Sizilien geboren; jetzt ist er ein Freigelassener und der größte Winkeladvokat in ganz Rom. Es kommt ihm nur auf das Honorar an. Er würde einen Mann verteidigen, der seine Mutter vergewaltigt hat, wenn es um genug Gold ginge, und die alte Frau hinterher der Verleumdung anklagen, wenn er irgendeinen Profit darin sehen könnte. Hast du irgendeine Ahnung, wer ihn engagiert hat, den Fall zu übernehmen?«
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