»Das habe ich sie auch gefragt«, sagte Rufus, »nachdem sie endlich aufgehört hatte zu zittern. Offenbar war sie aus einem Alptraum hochgeschreckt und wollte auf dem Balkon frische Luft schnappen. Sie hat eine Weile hier gestanden und den Vollmond betrachtet, sagte sie, und hat dann zufällig nach unten geschaut -«
»Und hat ebenso zufällig die Leiche ihres Vaters entdeckt, fast zwanzig Meter entfernt zwischen lauter Blättern, Gras und Steinen?«
»So unwahrscheinlich ist das nicht«, verteidigte Rufus sie. »Der Mond schien direkt auf die Stelle, ich hab ihn selbst gleich gesehen, als sie in die Richtung gezeigt hat. Und es war kein schöner Anblick, seine Gliedmaßen und sein Hals waren völlig unnatürlich verrenkt...« Er hielt inne, und sein Atem stockte, als er plötzlich begriff.
»Oh, Gordianus, du glaubst doch nicht, das Mädchen hat...«
»Natürlich hat sie«, sagte Tiro dumpf aus dem Schatten in unserem Rücken. »Die einzige Frage ist, wie sie es geschafft hat, Sextus auf den Balkon zu locken, aber ich bin sicher, das war nicht weiter schwierig für sie.«
»Das ist nicht die einzige Frage«, wandte ich ein, obwohl es reine Pedanterie zu sein schien, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. »Warum hat sie zum Beispiel geschrien, nachdem sie ihn gestoßen hat, wenn sie ihn wirklich gestoßen hat, und vor allem, wenn es ein vorsätzlicher Mord war? Warum blieb sie auf dem Balkon stehen, bis sie jemand finden konnte?«
Tiro zuckte gelangweilt die Schultern; für ihn war die Sache klar. »Weil die Realität ihrer Tat sie entsetzt hat. Sie ist schließlich noch ein Kind, Gordianus, keine abgebrühte Mörderin. Deswegen hat sie auch geweint, als Rufus hinzukam; das Entsetzen darüber, es wirklich getan zu haben, die Erleichterung, der Anblick seines zerschmetterten Körpers...« Tiro schüttelte verzweifelt den Kopf, aber als ich sein Gesicht sah, halb im Mondschein, halb im Schatten, las ich darin keine Gedanken an etwas Entsetzliches, sondern die Erinnerung an etwas, das für immer verloren und zu schmerzhaft süß zu ertragen war.
Ich drehte mich um und blickte in den Abgrund, die tiefe Grube aus Mondlicht und Schatten, in die Sextus Roscius am Ende gefallen war, ob durch seinen eigenen Willen oder den eines anderen. Ich kniete mich vor die Brüstung und strich mit beiden Händen über die bis auf ein paar Steinchen glatte Oberfläche, die an meinen Handflächen kleben blieben. Mir kam ein Gedanke.
»Tiro, nimm dir eine der Lampen. Halte sie direkt über die Brüstung, damit ich mir das mal genauer ansehen kann.« Das Licht wankte, ich blickte auf und sah, daß Tiro, so nahe am Rand stehend, blaß um die Nase geworden war. »Wenn du sie nicht ruhig halten kannst, gib sie Rufus.« Tiro übergab die Lampe ohne Zögern. »Hierher, Rufus«, sagte ich, »folge mir und halte die Lampe direkt über die Brüstung.«
»Paß auf deine Nase auf«, sagte Rufus, der meine Anspannung spürte und mit einem Witz zu überspielen suchte. »Wonach suchst du eigentlich?«
Wir gingen zweimal die gesamte Länge der Brüstung ab, ohne Erfolg. Ich stand auf und zuckte mit den Schultern. »Es war nur so eine Idee. Wenn Sextus Roscius tatsächlich aus eigenem Willen gesprungen ist, wäre es nur logisch, daß er vor dem Sprung auf die Brüstung gestiegen wäre. Ich hatte gehofft, daß man vielleicht die Ahnung eines Fußabdrucks in dem feinen Staub sieht.«
Ich drehte meine Hände unter dem Licht der Lampe um und betrachtete den feinen Staub, der vermischt mit kleinen Kiesbrocken an meinen Handballen klebte. Ich wollte mir gerade den Schmutz abklopfen, als ich ein winziges Teilchen entdeckte, das völlig anders aussah als die anderen. Es war größer und glänzte, mit glatten, scharfen Kanten; statt blaßgrau schimmerte es im Licht der Lampe mattrot. Ich drehte es mit dem Finger um und bemerkte, daß es gar kein Sternchen war.
»Was ist es?« flüsterte Rufus und drängte sich neben mich. »Klebt Blut daran?«
»Nein«, sagte ich, »aber etwas, das die Farbe von getrocknetem Blut hat.«
»Aber das ist Blut!« sagte Tiro. Während Rufus und ich die Brüstung inspizierten, hatte er sich eine eigene Lampe genommen und die Steinplatten des Balkons in sicherem Abstand vom Rand untersucht. Direkt vor seinen Füßen waren, so winzig, daß wir sie vorher nicht bemerkt hatten, ein paar Spritzer einer dunklen Flüssigkeit auf dem Boden zu sehen. Die Blutstropfen waren am Rand schon eingetrocknet, in der Mitte jedoch noch feucht.
Ich machte einen Schritt zurück und deutete mit der Hand eine Linie an. »Dort, auf dem Boden des Balkons, haben wir Blutstropfen. Dort, direkt davor auf der Brüstung, habe ich das hier gefunden.« Ich hielt das rote Teilchen vorsichtig zwischen Zeigefinger und Daumen. »Und direkt darunter ist die Stelle, wo Sextus Roscius auf die Treppe aufgeschlagen ist.«
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Rufus.
»Sag mir erst dies: Wer war heute abend sonst noch auf diesem Balkon?«
»Nur Roscia und ich, soweit ich weiß. Und natürlich Sextus Roscius.«
»Keiner der Sklaven? Oder Roscius’ Frau?«
»Das glaube ich nicht.«
»Nicht einmal Caecilia?«
Rufus schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir ganz sicher. Als ich ihr die schlechte Nachricht überbrachte, sagte sie, sie wolle nicht einmal in die Nähe dieses Flügels kommen. Sie hat ihren Sklaven befohlen, Sextus’ Leiche zur rituellen Reinigung in ihr Privatheiligtum zu bringen.«
»Ich verstehe. Kannst du mich jetzt zur Leiche bringen?«
»Aber Gordianus«, flehte Tiro, »was hast du entdeckt?«
»Daß Roscia ihren Vater nicht ermordet hat.«
Seine Stirn glättete sich, aber sie bewölkte sich gleich wieder mit neuem Zweifel. »Aber wenn er gesprungen ist, wie erklärst du dir dann das Blut?«
Ich legte die Finger auf meine Lippen. Tiro verfiel gehorsam in Schweigen, aber ich hatte ihm gar nicht andeuten wollen, den Mund zu halten; ich hatte nur abergläubisch das kleine Teil geküßt, das ich noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und gebetet, daß ich mich nicht irrte.
Die Türen zum Heiligtum von Caecilias Göttin waren fast verschlossen, aber der Duft von Weihrauch und das Klagegeschrei ihrer Sklavinnen drangen trotzdem auf den Flur. Ahausarus stand Wache und schüttelte finster den Kopf, als wir versuchten, den Raum zu betreten. Rufus packte meinen Arm und hielt mich zurück.
»Halt, Gordianus. Du kennt doch die Regeln in Caecilias Haus. Männer
dürfen das Heiligtum der Göttin nicht betreten. «
»Es sei denn, sie sind tot?« blaffte ich ihn an.
»Sextus Roscius, der Sohn des Sextus Roscius, ist von der Göttin gerufen
worden«, säuselte Caecilia, die auf einmal hinter uns stand. »Sie hat ihn an ihren Busen gerufen.«
Ich drehte mich um und sah eine verwandelte Frau. Caecilia stand sehr gerade, den Kopf stolz zurückgeworfen. Anstatt ihrer Stola trug sie ein weites, bauschiges Gewand, das in tiefstem Schwarz gefärbt war. Ihr Haar war für die Nacht gelöst und fiel in langen wallenden Locken auf ihre Schultern. Die verschiedenen Schichten Schminke waren weggewischt. Faltig und ramponiert legte sie nichtsdestoweniger eine Vitalität und Entschlossenheit an den Tag, die ich bei ihr nie zuvor erlebt hatte. Sie schien weder wütend noch erfreut, uns zu sehen, als ob unsere Gegenwart ohne Bedeutung für sie wäre.
»Die Göttin mag Sextus Roscius zu sich gerufen haben«, sagte ich, »aber ich würde, wenn ich darf, Caecilia Metella, trotzdem sehr gerne seine unsterblichen Überreste untersuchen.«
»Was für ein Interesse könntest du an seiner Leiche haben?«
»Es ist ein Zeichen, nach dem ich suche. Vielleicht ist es ja das Zeichen der Göttin, die ihn zu sich gerufen hat.«
»Sein ganzer Körper ist verdreht, alle Knochen sind gebrochen«, sagte Caecilia. »Er ist so übel zugerichtet, daß man keine einzelnen Wunden mehr erkennen kann.«
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