»Dann sind Cicero und seine Verbündeten nach wie vor immun und vor der Rache der Roscier sicher -«
»Selbstverständlich.«
»- und die Familie von Sextus Roscius wird trotz seines Todes eine Entschädigung von Chrysogonus erhalten?«
Sulla hielt inne. Ich hielt meinen Blick zu Boden gewandt. »Natürlich«, sagte er. »Für seine Frau und seine Töchter wird gesorgt werden, trotz des Selbstmordes.«
»Du bist gnädig und gerecht, Lucius Sulla«, sagte ich und machte ihm den Weg frei. Er ging, ohne sich umzusehen, wartete nicht einmal, bis ihn ein Sklave nach draußen begleitete. Wenig später hörten wir, wie die Tür geöffnet und wieder zugeschlagen wurde, bevor die Straße vom Lärm seines abziehenden Gefolges widerhallte. Dann war alles wieder still.
Während des nachfolgenden Schweigens kam erneut eine Sklavin ins Zimmer, um die Trümmer zu beseitigen, die Sulla zurückgelassen hatte. Während sie die Scherben zusammensuchte, starrte Cicero abwesend auf den Haferbrei, den Sulla gegen die Wand geschleudert hatte. » Laß die Rollen einfach liegen, Athalena. Sie sind bestimmt alle durcheinander. Tiro wird sie später aufräumen.« Sie nickte gehorsam, und Cicero begann, auf und ab zu gehen.
»Welche Ironie«, sagte er schließlich. »So viele Anstrengungen auf allen Seiten, und am Ende ist sogar Sulla enttäuscht. Cui bono, fürwahr?«
»Zunächst mal zu deinem, Cicero.«
Er sah mich schelmisch an und konnte das Lächeln, das über seine Lippen huschte, nicht verbergen. Auf der anderen Seite des Raums sah Tiro verwirrter und niedergeschlagener aus denn je.
Rufus schüttelte den Kopf. »Sextus Roscius, ein Selbstmörder. Was meinte Sulla eben damit, die Gerechtigkeit hätte gesiegt und Roscius sei sein eigener Henker gewesen?«
»Auf dem Weg zu Caecilias Haus werde ich dir alles erzählen«, sagte ich. »Wenn Cicero es dir nicht lieber selbst erklären will.« Ich sah Cicero direkt an, der an der Vorstellung offenkundig wenig Gefallen fand. »Dann kann er mir auch gleich erklären, wieviel er schon von der Wahrheit wußte, als er mich engagiert hat. Aber inzwischen sehe ich wenig Grund zu glauben, daß Sextus Roscius’ Sturz ein Selbstmord war, bis ich die Beweise nicht mit eigenen Augen gesehen habe.«
Rufus zuckte die Schultern. »Wie ließe es sich sonst erklären? Es sei denn, es war schlicht ein Unfall - der Balkon ist tückisch, und er hat den ganzen Abend getrunken; er könnte also durchaus ausgerutscht und gestürzt sein. Außerdem gibt es im Haus keinen, der seinen Tod wünscht.«
»Vielleicht nicht.« Ich wechselte einen vestohlenen Blick mit Tiro. Wie hätte einer von uns die Verbitterung und Verzweiflung von Roscia Majora vergessen können? Der Freispruch ihres Vaters hatte all ihre Hoffnung auf Rache und Schutz für ihre geliebte Schwester zunichte gemacht. Ich räusperte mich und rieb mir die müden Augen. »Sei so nett und begleite mich zurück zu Caecilias Haus, Rufus, und zeig mir, wo und wie Roscius gestorben ist.«
»Heute nacht noch?« Er sah müde aus und verwirrt und wie ein junger Mann, der am frühen Abend schon zuviel Wein getrunken hatte.
»Morgen ist es vielleicht zu spät. Caecilias Sklaven könnten wichtige Beweise zerstören.«
Rufus willigte mit einem müden Nicken ein.
»Und Tiro«, sagte ich, ein Flehen in seinen Augen erhörend. »Kann er auch mitkommen, Cicero?«
»Mitten in der Nacht?« Cicero verzog mißbilligend die Lippen. »Oh, also meinetwegen, soll er ruhig.«
»Du bist natürlich auch eingeladen.«
Cicero schüttelte den Kopf. Er sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an. »Das Spiel ist aus, Gordianus. Für alle Menschen mit einem reinen Gewissen wird es langsam Zeit, sich ihre wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Sextus Roscius ist tot, und was noch? Er ist aus freien Stücken gestorben; Sulla-vor-dem-es-keine-Geheimnisse-gibt persönlich hat es gesagt. Gib es auf, Gordianus. Folge meinem Beispiel und gehe ins Bett. Der Prozeß ist beendet, der Fall ist abgeschlossen. Aus und vorbei, mein Freund.«
»Vielleicht, Cicero«, sagte ich, ging in die Halle und machte Rufus und Tiro ein Zeichen, mir zu folgen. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Hier muß es gewesen sein, genau an dieser Stelle«, flüsterte Rufus.
Der Vollmond schien hell auf die Platten des Balkons und die kniehohe steinerne Brüstung. Ich blickte über den Rand und entdeckte gut zehn Meter unter uns die Treppe, von der Rufus gesprochen hatte; die glatten, abgetretenen Kanten der Stufen glänzten matt im Mondlicht. Die Treppe wand sich weiter nach unten in die Dunkelheit, gesäumt von hochgewachsenen Wildkräutern, nur hier und da vom Ast einer Eiche oder Weide verdeckt. Aus dem Innern des Hauses erfüllte Klagegeschrei die warme Abendluft; die
Leiche von Sextus Roscius war im Heiligtum von Caecilias Göttin aufgebahrt worden, und ihre Sklavinnen hatten das zeremonielle Klagen und Schreien angestimmt.
»Die Brüstung sieht jämmerlich niedrig aus«, sagte Tiro und trat aus sicherer Entfernung gegen eine der gedrungenen Säulen. »Kaum hoch genug, um ein Kind auf dem Balkon zu schützen.« Er wich schaudernd zurück.
»Ja«, pflichtete ihm Rufus bei. »Das habe ich Caecilia gegenüber auch schon angemerkt. Offenbar gab es früher einmal ein zusätzliches Holzgeländer. Man kann die eisernen Einfassungen an manchen Stellen noch sehen. Aber das Holz ist morsch und brüchig geworden, und irgend jemand hat das Geländer abreißen lassen. Caecilia sagt, sie wollte schon lange ein neues bauen lassen, ist aber bis jetzt noch nicht dazu gekommen. Der hintere Flügel ist bis zur Ankunft von Sextus und seiner Familie lange nicht benutzt worden.« Er trat neben mich und blickte vorsichtig über den Rand. »Die Treppe dort unten ist steiler, als sie von oben aussieht. Sehr steil und eng, rutschig und hart. Sie hinabzusteigen ist schon an sich gefährlich; für einen Mann, der gestürzt oder gestolpert ist...« Er schüttelte sich. »Er ist noch den halben Hügel hinabgerollt, bevor sein Körper zum Liegen kam. Da, man kann die Stelle von hier aus durch die Lücke zwischen den Zweigen sehen, wo die Treppe eine scharfe Biegung macht. Man kann sie genau erkennen - da vorne, wo sich der Mond in der Blutlache spiegelt wie in schwarzem Öl.«
»Wer hat ihn gefunden?« fragte ich.
»Ich. Das heißt, ich war der erste, der schließlich nach unten gegangen ist, um seine Leiche umzudrehen.«
»Und wie kam das?«
»Ich hatte den Schrei gehört.«
»Wessen Schrei? Hat Roscius denn geschrien, als er hinuntergestürzt ist?«
»O nein. Roscia, seine Tochter. Ihr Schlafzimmer, das sie sich mit ihrer kleinen Schwester teilt - liegt gerade noch im Haupthaus, die erste Tür des Flures.«
»Das verstehe ich nicht.«
Rufus holte tief Luft. Es fiel ihm offenbar schwer, seine verwirrten Gedanken zu ordnen. »Ich war schon in mein Schlafzimmer gegangen - in dem ich immer schlafe, wenn ich über Nacht bleibe. Es liegt in der Mitte des
Hauses, ziemlich genau zwischen Caecilias Gemächern und diesen hier. Ich hörte einen Schrei, den Schrei eines Mädchens, gefolgt von lautem Weinen. Ich stürzte aus meinem Zimmer und folgte dem Geräusch. Ich fand sie hier oben auf dem Balkon, zitternd und schluchzend im Mondlicht - Roscia Majora. Natürlich hatte sie schon den ganzen Abend geweint, aber das war kaum eine Erklärung für den Schrei. Als ich sie fragte, was denn los sei, zitterte sie so heftig, daß sie nicht sprechen konnte. Statt dessen zeigte sie auf die Stelle, wo Sextus Roscius’ Leiche liegen geblieben war.« Er runzelte die Stirn. »Also war es eigentlich Roscia, die die Leiche als erste entdeckte, aber ich war derjenige, der dann runtergerannt ist, um nachzusehen.«
Ich sah mich zu Tiro um, der traurig den Kopf schüttelte. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. »Und wie kam es, daß Roscia zu dieser Stunde auf genau dem Balkon stand, von dem ihr Vater gefallen war?« fragte ich.
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