Äbtissin Ballgel schwieg eine Weile, bis Fidelma sie fragte: »Also hatte sich Foillan als Prophet erwiesen?«
»Er lebte nicht lange genug, um seine Vorhersage erfüllt zu sehen. Er starb nämlich vier Jahre vor seiner geliebten Gertrude. Er und drei Gefährten waren unterwegs von der Abtei Fosse durch den Wald, dem wir uns gerade nähern – den Wald von Seneffe –, als sie von Räubern überfallen und ermordet wurden. Ihre Leichen waren so gut im Wald versteckt, dass man sie erst nach drei Monaten zufällig entdeckte. Foillans Bruder Ultan wurde Abt.
Als dann die heilige Gertrude gestorben war, kamen die beiden Abteien überein, dass man, da sie ja die Wohltäterin beider Häuser war, eine Phiole mit ihrem Blut, das man ihr nach ihrem Tode abgenommen hatte, hinter dem Hochaltar unserer Abtei aufbewahren würde. Doch jedes Jahr sollte diese Phiole an ihrem Todestag zur Abtei von Fosse gebracht und dort in einem Gottesdienst vom Abt gesegnet werden. Dies war die Aufgabe, die Schwester Cessair und Schwester Della heute Morgen erfüllen sollten.«
»Wie hast du davon erfahren, dass eine Schwester im Wald ermordet wurde?«
»Als der Mittag gekommen war, der Zeitpunkt des Gottesdienstes in Fosse, und dort die Schwestern aus unserer Gemeinschaft mit dem Heiligen Blut noch nicht eingetroffen waren, machte sich Bruder Sinsear auf, um festzustellen, was sie aufgehalten hatte. Er fand die Leiche einer der Schwestern am Wegesrand. Er eilte sofort her, um uns davon zu benachrichtigen, und kehrte dann unverzüglich um und alarmierte die Gemeinschaft in Fosse.«
»Aber weißt du, welche der beiden Schwestern getötet wurde?«
Die Äbtissin schüttelte den Kopf.
»Bruder Sinsear war zu aufgeregt, um uns das zu sagen. Er überbrachte nur der Pförtnerin die Nachricht und machte sich sogleich wieder auf den Rückweg.«
Inzwischen waren sie in den hochaufragenden, finsteren Wald von Seneffe eingetreten. Der Weg führte meist geradeaus, schlängelte sich jedoch manchmal um Felsbrocken herum und an Bächen entlang, bis man diese über eine Furt durchqueren konnte. Die dichten Bäume sperrten die Nachmittagssonne beinahe aus, und die Luft ringsum war kühl. Fidelma dachte, dass dieser Weg einen idealen Hinterhalt für Räuber bot. Es verwunderte sie nicht, dass hier schon Menschen zu Tode gekommen waren.
Obwohl die irischen Ordensleute unbewaffnet in die Welt zogen, um ihren Glauben zu predigen, hatten doch die meisten von ihnen die Kunst des troid-sciathagid , des Verteidigungskampfes, gelernt. Dies war eine Methode der Selbstverteidigung ohne Waffen. Selten fielen derart ausgebildete Ordensleute herumstreunenden Banden von Dieben und Räubern zum Opfer. Die Namen der beiden Schwestern deuteten darauf hin, dass sie Irinnen waren und also zumindest Grundkenntnisse in dieser Kunst besitzen mussten. Es war nämlich üblich, dieses Wissen zu erwerben, ehe man das Heilige Wort von den Küsten der Insel Éireann in fremde Länder trug.
Die kleine Gruppe schritt schweigend und rasch den Pfad entlang. Die Nonnen blickten sich des Öfteren ängstlich um, ob irgendwo eine Gefahr lauerte.
»Ist dies nicht ein gefährlicher Weg für junge Schwestern?«, erkundigte sich Fidelma nach einer Weile.
»Nicht gefährlicher als andere«, erwiderte ihre Freundin. »Lass die Geschichte von Foillans Tod deine Meinung nicht beeinflussen. Das ist zehn Jahr her, und die Räuber wurden inzwischen aus diesem Landstrich vertrieben. Es hat seither keine weiteren Zwischenfälle mehr gegeben.«
»Bis heute«, bemerkte Fidelma finster.
»Bis heute«, seufzte Ballgel.
Wenig später erblickten sie eine Gruppe von vier oder fünf Mönchen. Sie hatten einen Karren mitgebracht, vor den ein Esel gespannt war. Sie standen um eine knorrige Eiche herum, deren Äste mit den welken Blättern so niedrig hingen, dass man beinahe hinaufreichen und die untersten Zweige packen konnte. Dadurch war es an dieser Stelle noch finsterer.
Ein großer Mann von kräftiger Gesichtsfarbe, der ein goldenes Kreuz um den Hals trug und sichtlich eine Respektsperson war, erblickte Äbtissin Ballgel und kam auf sie zugeeilt.
»Ich grüße dich, Mutter Äbtissin. Eine schlimme Sache, eine gotteslästerliche Sache.« Er sprach Latein, aber Fidelma konnte seinen fränkischen Zungenschlag ausmachen.
»Abt Heribert von Fosse«, flüsterte Ballgel ihr gerade noch außer Hörweite zu.
»Wo ist der Leichnam?« Ballgel kam gleich zur Sache, sprach ebenfalls Latein.
Abt Heribert schaute betreten drein.
»Ich möchte euch erst auf den Anblick vorbereiten«, hub er an.
»Ich habe schon Tote gesehen«, erwiderte Äbtissin Ballgel ruhig.
Er deutete auf die vom Weg abgewandte Seite des Eichenstammes.
Ballgel ging zu der Stelle, zu der seine Hand sie gewiesen hatte, dicht gefolgt von Fidelma.
Man hatte eine Frau an den Eichenstamm gebunden, sodass sie vom Weg aus nicht zu sehen war. Es wirkte beinahe wie die Parodie einer Kreuzigung. Überall war Blut. Fidelma verzog angewidert das Gesicht. Jemand hatte der Frau, die ein Ordensgewand trug, systematisch das Gesicht verstümmelt.
»Löst sie vom Baum!«, rief Äbtissin Ballgel mit scharfer Stimme. »Sofort! Lasst das arme Mädchen nicht noch länger da hängen!« Mit finsterer Miene traten zwei der Mönche vor.
»Wer ist es?«, fragte Fidelma. »Erkennst du sie?«
»O ja. Wir haben nur eine Schwester, deren Haar so golden leuchtet. Es ist die junge Schwester Cessair. Gott sei ihrer Seele gnädig.« Sie beugte das Knie.
Fidelma schürzte nachdenklich die Lippen. Sie sah zu, wie zwei Mönche die Tote vom Baum lösten und auf den Karren legen wollten.
»Wartet noch!«, rief sie. Sie wandte sich der Äbtissin zu und fragte: »Ich möchte mir den Leichnam genauer ansehen, und zwar allein.«
Überrascht schaute Ballgel sie an.
»Wozu das denn?«
»Dies sind überaus merkwürdige Umstände. Es könnte sein, dass sie … brutal behandelt wurde.«
Ballgel fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Stirn, bis sie endlich begriff, was Fidelma meinte.
Sie befahl den Mönchen, die Leiche vor dem Karren auf die Erde zu legen, und bat dann Abt Heribert, sich mit seinen Männern in respektvollem Abstand zurückzuziehen.
Fidelma kniete sich neben die Tote. Dabei bemerkte sie, dass der Boden unter der Eiche recht feucht, ja morastig war. Der Karren und die vielen Füße der Menschen, die hier gegangen waren, hatten ihn aufgewühlt. Fidelmas Blick fiel auf zwei Fußabdrücke, die weitaus tiefer eingegraben waren als die anderen, sodass sich sogar Wasserlachen darin gebildet hatten. Sie ignorierte den Schlamm und beugte sich über den Leichnam. Der Äbtissin bedeutete sie, sie solle näher treten.
»Wenn du bitte meine Untersuchung beobachten und bezeugen würdest, Ballgel«, rief sie ihr über die Schulter hinweg zu. »Du siehst, dass das Gesicht der Schwester mit einem Messer übel zugerichtet wurde. Die Haut wurde absichtlich mit einer scharfen Klinge gezeichnet, entstellt, als hätte man es darauf abgesehen, das Gesicht des Mädchens zu zerstören.«
Ballgel zwang sich hinzuschauen und nickte, konnte aber ein qualvolles Stöhnen nicht unterdrücken.
Fidelma beugte sich tiefer herab. Dann hielt sie einen Augenblick inne, denn sie hatte gesehen, was sie sehen wollte. Nun wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem kleinen ledernen marsupium zu, das am Gürtel der toten Schwester hing. Es war nicht mit einem dünnen Lederriemen zugeschnürt, wie das solche Beutel sonst waren, und es war leer.
Fidelma erhob sich. Als Nächstes ging sie zu dem Baum, von dem man den Leichnam abgenommen hatte, und begann sich umzusehen. Mit einem triumphierenden Aufschrei beugte sie sich zur Erde und hob ein zerrissenes Stück Papier auf. Anstelle von Buchstaben waren darauf einige seltsame kurze Linien. Fidelma runzelte die Stirn und verstaute das Papier in ihrem eigenen marsupium .
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