Am nächsten Tag kam Téite ahnungslos hierher, um die Kleider zum Waschen und Ausbessern abzuholen. Adag hatte sie wie immer zusammengesucht, unter ihnen auch deine Kutte, die mit den Blutflecken. Du hattest nicht vorgehabt, dass das Mädchen sie erhalten sollte. Du eiltest zu ihrer Hütte, um sicherzustellen, dass sie keinen Verdacht geschöpft hatte. Vielleicht fasstest du deinen Plan schon, bevor du zu ihr gingst? Du brachtest sie um und legtest den Kelch neben ihre Leiche. Das Kruzifix war schließlich wertvoll genug, dir Reichtum und Besitz zu verschaffen. Es war bekannt, dass Ibor und Téite irgendeine Art von Beziehung hatten. Jeder würde das Schlimmste vermuten. Du musstest nur noch zurückkehren und abwarten, bis du die Gemeinde verlassen könntest, ohne Verdacht zu erwecken.«
Bruder Finnlugs Gesicht war kreidebleich.
»Du kannst das nicht beweisen«, murmelte er ohne Überzeugung.
»Muss ich es beweisen? Sollen wir das Kruzifix suchen gehen? Wirst du uns sagen, wo es ist … oder soll ich es sagen?« Sie stand entschlossen auf, als wollte sie den Raum verlassen.
Bruder Finnlug stöhnte und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Schon gut, schon gut. Es ist wahr. Du weißt, dass es in meiner Zelle versteckt ist. Es war eine Gelegenheit, zu entkommen … etwas Wohlstand, ein gutes Leben zu haben.«
Pater Febal ging langsam mit Fidelma zum Tor der zur Gemeinde gehörenden Gebäudegruppe.
»Woher wusstest du, wo Bruder Finnlug das Kruzifix versteckt hatte?«, fragte er.
Schwester Fidelma warf einen raschen Blick auf den ernst aussehenden Priester, und ein schnelles, verschmitztes Lächeln huschte über ihre Züge.
»Ich wusste es nicht«, gestand sie.
Pater Febal runzelte die Stirn.
»Wie wusstest du dann …? Wie wusstest du, dass Finnlug der Schuldige war und was er getan hatte?«, fragte er erstaunt.
»Mein Instinkt hat es mir gesagt. Natürlich war es eine Schlussfolgerung auf Grundlage der Tatsachen, die mir bekannt waren. Aber ich glaube, wenn Bruder Finnlug von mir verlangt hätte, meine Anschuldigung zu beweisen, wäre ich bei einer Gerichtsverhandlung unter Einhaltung der Vorschriften nicht dazu in der Lage gewesen. Es ist manchmal wichtiger, dass die schuldige Person denkt, du wüsstest etwas, und glaubt, dass du es beweisen kannst, als dass du es tatsächlich beweisen kannst. Ohne Bruder Finnlugs Geständnis hätte ich diese Angelegenheit am Ende womöglich gar nicht aufklären können.«
Pater Febal starrte sie noch immer entgeistert an, als sie zum Abschied die Hand hob und über die Straße in Richtung Cashel davonschritt.
»Schwester Fidelma! Wie kommst du denn hierher?«
Äbtissin Ballgel stand am Tor der Abtei von Nivelles und starrte ungläubig auf die staubige Gestalt der jungen Nonne.
»Ich bin auf dem Rückweg nach Kildare, Ballgel«, antwortete die große, schlanke Frau. Ein breites Begrüßungslächeln lag auf dem von der Reise gezeichneten Gesicht. »Ich war eine Weile in Rom, und wo sonst sollte ich mich hinwenden, wenn ich auf dem Weg zur Küste durch das Land der Franken komme?«
Zur Überraschung der beiden älteren Nonnen, die die Äbtissin offenbar begleiteten, fielen Ballgel und Schwester Fidelma einander mit unverhohlener Freude in die Arme.
»Es ist lange her«, meinte die Äbtissin.
»Wahrhaftig, lange her. Ich habe dich nicht gesehen, seit du aus Kildare weggegangen bist und die Küsten von Éireann hinter dir gelassen hast, um hierherzukommen. Und jetzt sagt man mir, du seist die Äbtissin.«
»Ja, die Gemeinschaft hat mir bei der Wahl diese Ehre zukommen lassen.«
Schwester Fidelma bemerkte, dass die beiden Nonnen, die bei der Äbtissin standen, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten. Überrascht nahm sie ihre bitterernsten, ängstlichen Gesichter wahr. Äbtissin Ballgel sah, dass Fidelmas Blick zu ihren Begleiterinnen gehuscht war. Die drei Nonnen hatten gerade die Abtei verlassen wollen, als Fidelma ihnen begegnet war.
»Du hast leider einen sehr schlechten Augenblick für deine Ankunft gewählt, Fidelma. Wir sind unterwegs zum Wald von Seneffe, ein kleines Stück Wegs von hier. Du bist nicht dort vorbeigekommen, oder?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin von Namur aus über die Berge gekommen. Bis dort bin ich mit dem Schiff auf dem Fluss gereist.«
»Ah!« Die Äbtissin wirkte ernst, rang sich aber ein Lächeln ab. »Geh hinein und sei unser Gast, Fidelma. Ich hoffe, dass ich vor dem Abend wieder zurück bin. Dann können wir uns unterhalten und gegenseitig unsere Neuigkeiten erzählen.«
Fidelma hob fragend die Brauen. Die Stimme und das Gebaren der Äbtissin verrieten ihr, dass ihr etwas auf der Seele lag.
»Was ist los?«, fragte sie. »Dich quält doch etwas.«
Ballgel verzog das Gesicht.
»Du hattest schon immer ein scharfes Auge, Fidelma. Mich hat gerade die Nachricht erreicht, dass eine unserer Schwestern im Wald von Seneffe ermordet aufgefunden wurde, und ein anderes Mitglied unserer Gemeinschaft wird vermisst. Wir eilen gerade zum Fundort, um festzustellen, ob das alles stimmt. Geh also und ruhe dich von den Strapazen der Reise aus. Ich geselle mich später zu dir.«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Mutter Äbtissin«, sagte sie leise, »es ist wirklich lange her, und vielleicht hast du es vergessen. Ich habe acht Jahre lang bei Brehon Morann Recht studiert. Ich verfüge über eine gewisse Begabung, Rätsel zu lösen und Geheimnisse aufzuklären. Lass mich mitkommen. Ich will dir alles Talent, was ich besitzen mag, zur Verfügung stellen, um dieser Sache auf den Grund zu gehen.«
Fidelma und Ballgel waren zusammen Novizinnen im Kloster von Kildare gewesen.
»Ich erinnere mich sehr wohl an deine Begabung, Fidelma. Ich habe deinen Namen in der Zwischenzeit häufig gehört, denn oft beherbergen wir hier Reisende aus Éireann. Du kannst gern mitkommen«, sagte Ballgel erleichtert.
»Und du kannst mir unterwegs erläutern, was vorgefallen ist«, meinte Fidelma und stellte ihre Reisetasche innerhalb der Klostermauern ab, ehe sie sich den drei Frauen anschloss.
Sie machten sich auf den Weg. Fidelma und Ballgel gingen Seite an Seite, und die beiden anderen Nonnen folgten ihnen.
»Wer ist denn ermordet worden?«, begann Fidelma.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass heute Morgen Schwester Cessair und Schwester Della zur Abtei von Fosse aufgebrochen sind. Heute ist der siebzehnte März. Deswegen trugen sie die Phiole mit dem Heiligen Blut der Seligen Gertrude zu den Brüdern von Fosse, damit sie dort wie jedes Jahr gesegnet würde und …«
Fidelma legte leicht die Hand auf den Arm ihrer Freundin.
»Nicht so schnell, Ballgel. Vergiss nicht, ich bin fremd hier.«
»Dann will ich ganz am Anfang beginnen«, sagte die Äbtissin. »Vor fünfundzwanzig Jahren starb der Herrscher dieses Landes, Pippin der Ältere von Landen. Seine Witwe Itta entschied sich, ihr Leben in einem Orden zu beschließen, und kam mit ihrer Tochter Gertrude hierher nach Nivelles. Sie ließen unsere Abtei errichten. Als Itta starb, wurde die Selige Gertrude unsere Äbtissin.
Etwa zu dieser Zeit kamen zwei Brüder aus Éireann, Foillan und Ultan, hier auf ihren Wanderungen vorüber und predigten das Wort Gottes. Sie beschlossen, sich in der Nähe anzusiedeln. Gertrude schenkte ihnen einige Meilen von hier entfernt Ländereien in Fosse, jenseits des Waldes von Seneffe. Foillan und Ultan versammelten zahlreiche irische Ordensleute um sich, und manche kamen auch in unsere Abtei. Es heißt, der heilige Foillan hätte der heiligen Gertrude prophezeit, weil sie die irischen Missionare so sehr liebte und förderte, würde sie an dem Tage sterben, an dem auch der heilige Patrick verschieden ist. Und es geschah, wie er es vorhergesagt hatte, auf den Tag genau vor sieben Jahren.«
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