Die ersten Matrosen kamen herbeigerannt, die Feuerglocke schlug an, das ganze Schiff schreckte hoch, und Gowers hatte zum ersten Mal das Gefühl, zu weit gegangen zu sein. Vor allem, als das Löschwasser aus einigen voreilig, wenn nicht blindwütig in die Gegend gekippten Eimern Mrs. Parkers nackte Füße berührte. Sie hielt es anscheinend für die ersten Wellen des Ozeans, mithin für die Vorboten ihres unfreiwilligen Seemannsgrabs, und ihr überschnappendes Geschrei »Wir sinken! Wir sinken!« trug nicht eben zur Beruhigung der Lage bei.
Gowers hoffte, dass Van Helmont inzwischen wieder an Deck war, denn wenn man ihn jetzt auf frischer Tat ertappt hätte, wäre er wohl kurzerhand – und mit Billigung des Predigers – ins Meer geworfen worden. Er machte sich ernsthafte Sorgen um den Arzt, denn mittlerweile drangen wirklich dichte Rauchwolken nach oben.
Er wird es ja wohl nicht übertrieben haben?, dachte Gowers, wurde aber in diesem Moment abgelenkt, weil ein über jedes menschliche Maß erröteter Leutnant der 16. Füsiliere aus Emmeline Thompsons Kabine kam und ihm fast auf die Füße getreten wäre. Carver sah ihn geradezu entsetzt an und stammelte: »Lassen Sie mich erklären …« Aber Gowers winkte ab.
»Keine Zeit. Retten Sie Emmeline!«
Der Leutnant ließ sich das nicht zweimal sagen und eilte mit einer gleichfalls tief beschämten jungen Dame an Deck, die sich aber immerhin die Zeit genommen hatte, sich vollständig anzukleiden.
Man sollte doch öfter mal ein Feuerchen legen!, dachte Gowers, und beinahe gleichzeitig fragte er sich, was eigentlich »Feuer! Alle Passagiere an Deck!« auf Bengali heißt, denn in den drei Kabinen, um die es bei dem ganzen Zauber ging, war noch keine Regung zu hören, obwohl er schon mehrfach an die Türen gehämmert hatte und der Rauch hier am dichtesten war. Eben hatte er beschlossen, die vorderste kurzerhand einzutreten, als sie von innen geöffnet wurde.
»Feuer!«, sagte Gowers. »Alle Passagiere an Deck!« Er wollte seine Hilfe anbieten und stand schon mit einem Fuß in der Tür, da schleuderte ihn ein Stoß gegen die Brust fast zwei Meter zurück.
Er hatte nicht einmal die Bewegung gesehen, rang nach Luft und konnte dabei immerhin beobachten, dass der hagere Inder eine verhüllte Gestalt auf dem Arm hielt und sich den Weg durch den engen Kabinengang mit blitzschnellen Fußtritten und Ellbogenstößen bahnte.
Trotz der Schmerzen in seiner Brust verzog Gowers sein Gesicht zu einem befriedigten Grinsen. Er hatte gewusst, dass dieser Mann kein gewöhnlicher Diener war.
Eine ältere Dame im Sari folgte dem Leibwächter auf dem Fuß, und keine der drei Personen drehte sich noch einmal um, sodass niemand wusste oder verhinderte, dass Gowers in die Kabinenflucht eindrang. Er stellte zunächst fest, dass die Außentüren der beiden hinteren Kabinen verschlossen und mit Gepäckstücken geradezu verbarrikadiert waren. Der hintere Raum schien überhaupt der Kern all dieser Absonderlichkeiten zu sein. Dort war ein Bett aufgeschlagen, das eigentlich in einen Palast oder zumindest in einen englischen Landsitz gehört hätte, und – das war die Entdeckung des Abends – an den Bettpfosten waren seidene Tücher befestigt, denen deutlich anzusehen war, dass sie keine Verzierungen, sondern Fesseln darstellten.
Mit einem kurzen Handgriff stellte Gowers fest, dass das Bett noch warm war, und nicht nur warm, sondern auch feucht, wie vom Schweiß eines Krankenlagers. Mitten im Raum lag ein Buch, als hätte es jemand weggeworfen oder verloren: Alice im Wunderland . Gowers überlegte kurz und nahm es dann an sich. Er brauchte kaum eine Minute, um das Türschloss dieser letzten Kabine und die blockierenden Schrankkoffer so zu präparieren, dass er die Tür von außen einen Spalt weit öffnen konnte.
Die Zeit begann ihm davonzulaufen, und er presste ein Taschentuch vor Mund und Nase. Im mittleren Raum befand sich ein schmales Feldbett, auf dem verschiedene Stücke indischer Damengarderobe verstreut lagen, ganz so, als habe jemand kurz, aber sehr intensiv überlegt, was man bei Feueralarm auf einem britischen Ostindienfahrer tragen kann. Daneben zwei geöffnete Koffer, ein kleiner Tisch mit einer Tasse lauwarmen Tees, schließlich mehrere Zeitungen, von denen sich Gowers in der Eile und im dichter werdenden Rauch aber nicht mehr einprägen konnte als Titel und Datum.
Im vorderen Raum wurde auf einem transportablen Herd offensichtlich gekocht, und einige Kisten und Kästen mit Lebensmitteln standen offen herum. Hier lag nurmehr eine Decke auf dem Boden, daneben, nur nachlässig bedeckt, ein Kookree, der Krummdolch eines indischen Gurkhas. Keine weiteren Waffen und auch sonst keine Anzeichen irgendwie illegalen Tuns. Und dann zwang der stinkende Qualm den Investigator endgültig wieder an Deck.
Oben legte sich die Panik allmählich. Bell, der Erste Offizier und dennoch sehr nachlässig gekleidet, komplimentierte die Passagiere mit mühsam unterdrücktem Ärger in die Messe, und Gowers sah, dass Van Helmont unter ihnen war. Auf der Brücke erkannte er Kapitän Radcliffe, der das Treiben eher amüsiert als beunruhigt verfolgte und mit lässigen Handbewegungen einige Befehle erteilte. Offensichtlich hatte der Mann in seinen Kleidern geschlafen. Aber was Gowers am deutlichsten in Erinnerung behielt, war die kleine Gruppe »seiner« Inder: vorn der hagere Krieger, dessen vor der Brust verschränkte Arme seine Unruhe nicht verbergen konnten, neben ihm eine ältere Dame, die von den Augen, wenn auch keinesfalls von der Figur her ganz einfach eine Art Gouvernante sein musste , und hinter den beiden das schönste Mädchen, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte.
60.
Die Hauer waren die Könige unter dem Berg. Ihre Schichten waren kürzer, ihre Bezahlung besser, ihr Selbstbewusstsein entsprechend größer, aber ihr Risiko unbeschreiblich.
Jane arbeitete jetzt seit fast drei Jahren unter Tage, und sie konnte sich an keine Woche erinnern, in der nicht irgendein Hauer irgendwo im Berg Hände, Arme, Beine oder sein Leben verloren hatte. Die wenigsten wurden älter als dreißig, und die dieses gesegnete Alter erreichten, hatten drei Viertel ihrer Lunge in die Minen gespuckt. Die Luft vor Ort knirschte beim Atmen zwischen ihren Zähnen, und manchmal tasteten sie mehr nach den Kohleadern, als dass sie sie sahen.
Sie hassten Davys Sicherheitslampen – »Mit der Davy siehst du nur, dass du nichts siehst!« –, aber konnten doch erst mit ihrer Hilfe in Flöze vordringen, die ihnen bei offenem Geleucht sofort um die Ohren geflogen wären. Immer wieder mal probierte es irgendwo jemand, immer wieder starb irgendwo jemand und riss seine Abräumer, Schlepper mit in den Tod.
Ben war zu klein, um den vollbeladenen Hund die dreißig Meter der Förderstrecke hinaufzustoßen, selbst wenn seine Mutter oder sogar Beth vorn im Geschirr ging und Mary-Ann neben ihm ihre schmale Schulter gegen den Wagen drückte. Jane ließ es nicht zu, zu groß war ihre Angst, dass seine Kraft nachlassen könnte wie bei der kleinen Helen und dass sich der belanglose Unfall wiederholen würde, der nicht einmal Platz im Tagesbericht des Obersteigers gefunden hatte.
Dafür war Mary-Ann inzwischen groß genug, die Wagen unten zu füllen, vor allem, wenn der Junge ihr dabei half. Außerdem waren Beth und Jane mit dem Schleppen schneller, konnten also auch ihrerseits noch beim Füllen helfen und so die Fördermenge halten. Selbst ihr Hauer war davon überzeugt oder sagte das jedenfalls.
Am Anfang der Schicht schlug er weit mehr, als die Kinder abräumen konnten. Er lag auf dem Rücken im Flöz, einen einzigen lächerlichen Stempel am Eingang zur Strecke. Über seinem Kopf, keine vier Handbreit über der nackten, schwer atmenden Brust, der Berg, dreihundert Meter, Millionen Tonnen Gestein. Ben sah nicht mehr von dem Mann als seine schwarzen, lederartigen Füße, die das losgebrochene Werk nach unten traten.
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