»Sie grinsen manchmal wie ein chinesischer Kuli in einer Opiumhöhle«, sagte Van Helmont. »Ist das nun Teil der Ermittlung oder die pure Wollust?«
»Beides«, sagte der Investigator wahrheitsgemäß. Warum sollte man das nicht zugeben? Jede Art Kunst oder Geschick geht bei einem wahren Könner über die bloße Notwendigkeit hinaus. Für Gowers war es so etwas wie ein Rausch der Nüchternheit, den seine Kombinationskunst ihm verschaffte – gerade, wenn sie die Ermittlung keinen Deut voranbrachte.
Es kam einer Trance nahe. Er war sehr verletzlich in solchen Momenten. Nicht labil in dem Sinne, dass er leicht gestört werden konnte, im Gegenteil. Wenn die Fakten in seinem Kopf herumwirbelten, einander trafen, abstießen oder sich miteinander verbanden, hätte eine Bombe neben ihm explodieren können, und er hätte es kaum bemerkt. Aber verletzlich eben in diesem ganz konkreten Sinn: Es hätte eine Bombe neben ihm explodieren können, er hätte sich nicht dagegen gewehrt.
Deshalb war er froh, wenn er nach dem Auftauchen aus solchen Meditationen Van Helmonts verlässliches, gutmütiges Gesicht vor sich sah, der ihm zu trinken und zu rauchen anbot und jeden Angreifer zumindest aufgehalten hätte.
»Gibt’s was Neues?«, fragte der Arzt, als sei der Investigator von einer längeren Reise zurückgekehrt.
»Fragen«, sagte Gowers abwesend.
»Immer dasselbe«, knurrte Van Helmont, schüttelte den Kopf und nahm sich sein Buch wieder vor, allerdings ohne große Hoffnung, weiterlesen zu können.
»Fragen«, sagte Gowers und öffnete die Augen, »Fragen machen die unbefriedigte Existenz des menschlichen Geistes in diesem körperlichen Dasein aus. Durch Fragen und immer neue Fragen bekundet er, dass er eigentlich ein Fremdling in der Welt ist.«
»Hören Sie auf«, sagte der Arzt. »Da geht einem ja die Zigarre aus.«
»Entweder antworten Sie, oder ich mache genauso weiter …«
»Dann fragen Sie! Schnell.«
»Sie sagen, die Dosis ist kontinuierlich erhöht worden, woher wissen Sie das?«
»Wenn man jemanden über einen längeren Zeitraum mit Arsen vergiften will, ist es absolut notwendig, die Dosis zu erhöhen, weil der Betreffende sonst nicht stirbt. Fragen Sie ruhig weiter.« Van Helmont hielt sich zwischenzeitlich für den weitaus begabteren Detektiv.
»Aber von einem längeren Zeitraum gehen Sie doch nur aus …«
»… weil Vivés’ Haare beweisen, dass ihm mehrfach Gift beigebracht wurde!«
»Mehrfach, das ist das Wort! Warum wurde ihm mehrfach Gift beigebracht?«
»Das ist bei Arsenvergiftungen beinahe üblich. So wird das Opfer zunächst nur krank, dann geht es ihm immer schlechter, irgendwann stirbt es – und niemand geht von einem Mord aus.«
»Gut«, wandte Gowers ein, »so funktioniert das in Adelskreisen. Und überall da, wo ein plötzlicher Tod den Verdacht auf Mord nahelegen würde. Aber ob ein französischer Schiffs - koch nun von heute auf morgen oder innerhalb von fünf Wochen stirbt, wo ist da der Unterschied?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Sie gehen von einem Menschen aus, der genau weiß, was er tut. Könnte nicht auch das Gegenteil der Fall sein? Dass Arsen einfach das erste Gift war, das ihm eingefallen ist? Und dass er es öfter versuchen musste, weil es beim ersten Mal ganz einfach nicht geklappt hat? Weil er keine Ahnung von der richtigen Dosierung hatte? Und nicht die geringste von Medizin?«
Van Helmont runzelte die Stirn. »Sie meinen, es war Braddock? !«
Gowers lachte.
»Gegenf rage«, sagte der Arzt dann. »Wenn er Vivés einfach nur töten wollte, warum hat er ihm dann nicht den Schädel eingeschlagen oder ihm ein Messer in die Rippen gejagt?«
»Nun, das wäre dann selbst bei einem Schiffskoch als unnatürliches Ableben gewertet worden!«
»Warum hat er ihn nicht einfach über Bord geworfen?«
»Warum hat er nicht beide über Bord geworfen?«
Van Helmont seufzte und schaute wieder in sein Buch, ohne sich wirklich konzentrieren zu können. Nach einer Weile sagte er ärgerlich: »Er hätte ihn auch totfragen können!«
56.
Samuel Thompson und Louis Vivés waren einander an Bord der Northumberland begegnet. Sie hatten mehrmals miteinander geredet. Beide waren ermordet worden. Mit diesen dürren Fakten arbeitete der Investigator. Die Annahme, dass die Morde mit dem Inhalt ihrer Gespräche zu tun hatten, führte zu der logischen Schlussfolgerung, dass der Mörder den Inhalt dieser Gespräche kannte, obwohl er nicht dabei gewesen war. Das wiederum setzte voraus, dass der Mörder seinerseits mit mindestens einem der beiden Opfer gesprochen haben musste. Die Fragen, was? wann? und wie? geredet worden war, konnten oder wollten dem Investigator weder Emmeline Thompson noch George Barclay beantworten. Nur versuchsweise ging er deshalb davon aus, dass Thompson und Vivés einander an Bord der Northumberland nicht begegnet, sondern wiederbegegnet waren, und suchte nach einem Punkt, an dem diese beiden Lebenslinien sich möglicherweise mit einer dritten geschnitten hatten – derjenigen des Mörders.
Gowers wusste nicht viel vom Krimkrieg, außer dass dort zum ersten Mal seit dem Mittelalter, nach einem halben Millenium tödlicher Feindschaft und vierzig Jahre nach den Napoleonischen Kriegen, England und Frankreich gemeinsam die Waffen ergriffen hatten. Der Schiffskoch und der designierte Gouverneur von St. Helena hatten demnach auf derselben Seite gestanden. Falls man sie deshalb getötet hatte, würde noch einer halben Million anderer Männer, Engländer, Franzosen, Türken und Sarden, das gleiche Schicksal drohen. Wahrscheinlicher war, dass sie mehr verband als Sewastopol, Balaclava und Inkerman, aber was das war, konnte Gowers mit keinem Gedächtnissystem der Welt erraten. Den Schlüssel zu diesem Geheimnis, wenn es ein Geheimnis gab, besaß nun, nach Vivés Tod, nur noch sein Mörder. Da aus den vorhandenen irgendwie dazu bringen, neue zu hinterlassen, aber das hieß: Er musste sich exponieren.
Gowers vermutete richtig, dass es auf einem Schiff voller britischer Soldaten auch den einen oder anderen Veteranen aus dem Krieg gegen Russland und für die Freiheit der Donauschifffahrt geben müsse. Er ließ deshalb in der Messe provozierende Äußerungen über die Belagerung von Sewastopol als eine der umständlichsten Aktionen der jüngeren Militärgeschichte fallen und behielt dabei insbesondere die älteren Offiziere scharf im Auge. Aber niemand fühlte sich beleidigt, keine Schnurrbartspitze zuckte unter dem Schlag, und ein Hauptmann Bledsoe pflichtete ihm sogar bei.
Koalitionskriege seien immer ein bisschen umständlich, hol sie der Teufel, genau wie die Gruppenreisen. Zu viele Interessen, zu viele Ideen, zu viele Köpfe, das mache den besten Krieg kaputt. Immer erst diese Fragen: Sind wir auch alle da? Sind auch alle dafür? – Wie soll man da eine Höhe stürmen? Eine Stadt einnehmen? Eine Stelle fürs Picknick finden?
Erst am zweiten Abend, in anderer Gesellschaft, hatte Gowers den gewünschten Erfolg.
»Wie soll ich diese Äußerung verstehen, junger Mann?!«, fragte aber kein Militär, sondern ausgerechnet der dicke Kaufmann Merriwell, unter dessen wogenden Fettschichten man nicht gerade einen Kriegshelden vermutet hätte.
»Wollen Sie etwas gegen Sewastopol sagen? Ich denke, der Erfolg gibt jeder Kampagne recht!«
Der Erste Offizier, der nach den harten Pflichten des Tages vor einer dampfenden Tasse Tee saß, schnalzte bei dieser Äußerung leise mit der Zunge und hörte dem weiteren Gespräch merkwürdig belustigt zu.
Gowers’ Entgegnung war geradezu kaufmännisch kühl kalkuliert. »Hunderttausend Tote allein durch Abwarten sind nicht gerade ein voller Erfolg, denke ich.«
»Sie haben noch keine Belagerung mitgemacht, junger Mann, keine richtige Schlacht!« Wie jeder Veteran jedes Krieges hielt Merriwell nur die militärischen Ereignisse für »richtig« und wichtig, an denen er selbst teilgenommen hatte. »Haben Sie überhaupt mal gedient, geschweige denn gekämpft ?«
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