»Ich habe damals auch gesehen, was ich noch heute sehe: wie sehr ihr euch liebt und einander vertraut.«
Darcy fuhr fort, als hätte sie nichts gesagt. »Und ihr einen Haushalt einzurichten – erst in London, und dann den Umzug nach Ramsgate zu bewilligen! Sie hätte in Pemberley bleiben müssen, Pemberley war ihr Zuhause. Ich hätte sie zu mir holen und ihr eine geeignete Dame als Gesellschafterin suchen können, vielleicht auch eine Gouvernante, um ihre in wesentlichen Dingen vernachlässigte Bildung voranzutreiben, und ich hätte hier mit ihr leben und ihr die Liebe und die Unterstützung eines Bruders geben können. Stattdessen vertraute ich sie einer Frau an, die ich, obgleich sie tot und jede irdische Versöhnung unmöglich ist, mein Leben lang für die Verkörperung des Bösen ansehen werde. Du hast es zwar nie angesprochen, dich aber sicherlich gefragt, warum Georgiana nicht bei mir in Pemberley, ihrem einzigen Zuhause, geblieben war.«
»Ich gebe zu, dass ich gelegentlich darüber nachgedacht habe, doch als ich Georgiana kennengelernt und euch beide miteinander erlebt hatte, konnte ich nichts anderes glauben, als dass dir nur ihr Glück und Wohlergehen am Herzen lag. Was Ramsgate betrifft, so wäre es denkbar gewesen, dass Ärzte den Aufenthalt in der Seeluft empfohlen hätten. Vielleicht, so dachte ich, war Pemberley, wo ihre Eltern gestorben waren, für sie nur mehr ein trauriger Ort, und deine Verantwortung für das Anwesen erlaubte es dir nicht, Georgiana so viel Zeit zu widmen, wie du es dir gewünscht hättest. Ich sah, dass sie in deinem Beisein glücklich war, und konnte sicher sein, dass du sie immer wie ein liebender Bruder behandelt hattest.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Und Colonel Fitzwilliam? Auch er war Georgianas Vormund und sicherlich anwesend, als Mrs. Younge sich vorstellte.«
»Ja, das stimmt. Ich ließ sie mit einer Kutsche nach Pemberley bringen und lud sie nach dem Vorstellungsgespräch zum Dinner ein. Im Rückblick weiß ich, wie leicht sie diese beiden empfänglichen jungen Männer manipulieren konnte. Sie präsentierte sich als bestens geeignet, um die Verantwortung für ein junges Mädchen zu übernehmen. Sie wirkte glaubwürdig, sagte genau das Richtige, gab sich als vornehme und gebildete Dame mit einem Faible für junge Leute aus, schien tadellose Manieren zu haben und in moralischer Hinsicht über jeden Zweifel erhaben zu sein.«
»Legte sie keine Referenzen vor?«
»Geradezu beeindruckende Referenzen – die selbstredend gefälscht waren, was wir hauptsächlich deshalb nicht erkannten, weil wir uns von ihrer äußeren Erscheinung und der augenscheinlichen Eignung für die Aufgabe blenden ließen und es versäumten, bei ihren angeblichen früheren Dienstherren nachzufragen. Die einzige Referenz, der wir damals nachgingen, erbrachte ein Empfehlungsschreiben, das, wie sich später herausstellte, von einem Komplizen stammte und ebenso gefälscht war wie ihre ursprünglichen Bewerbungspapiere. Ich glaubte, Fitzwilliam hätte an die anderen Dienstherren geschrieben, und er dachte, ich hätte diese Aufgabe übernommen. Ich gebe zu, dass es in meiner Verantwortung lag. Er war zu seinem Regiment zurückbeordert worden und mit Dringlicherem beschäftigt. Ich habe mehr Schuld auf mich geladen als er und kann weder ihn noch mich selbst rechtfertigen, aber damals tat ich es.«
»Es war eine schwere Aufgabe für zwei junge, unverheiratete Männer, auch wenn einer von ihnen der Bruder war. Gab es denn keine Verwandte oder gute Freundin der Familie, die Lady Anne hätte bitten können, Georgianas Gesellschafterin zu werden?«
»Das war ja das Problem. Dafür wäre nur Lady Catherine de Bourgh in Frage gekommen, die ältere Schwester meiner Mutter. Hätte sie sich anderweitig umgesehen, wäre es zum dauerhaften Bruch zwischen ihnen gekommen. Doch sie standen sich nie nahe, dafür waren sie zu unterschiedlich. Meine Mutter galt zwar als eine Frau mit eisernen Grundsätzen und ausgeprägtem Standesdünkel, doch wer in Kummer und Not war, dem begegnete sie mit ausgesuchter Freundlichkeit, und sie besaß große Menschenkenntnis. Wie Lady Catherine ist – oder vielmehr war –, weißt du. Die Güte, die du ihr nach dem Tod ihrer Tochter erwiesen hast, hat ihr Herz weicher gemacht.«
»Ich denke nie an Lady Catherines Fehler, ohne mich daran zu erinnern, dass uns erst ihr Besuch in Longbourn und ihre Entschlossenheit, herauszufinden, ob zwischen uns ein Verlöbnis bestand, das es gegebenenfalls zu verhindern galt, zueinandergebracht haben.«
»Als sie mir erzählte, wie du dich zu ihrer Einmischung geäußert hattest, schöpfte ich Hoffnung. Doch du warst eine erwachsene Frau und zu stolz, um dir Lady Catherines Anmaßung gefallen zu lassen. Sie wäre ein schrecklicher Vormund für ein fünfzehnjähriges Mädchen gewesen. Georgiana hatte immer ein bisschen Angst vor ihr. Meine Schwester wurde mehrmals eingeladen, nach Rosings zu ziehen. Lady Catherine schlug vor, Georgiana und ihre Cousine sollten sich eine Gouvernante teilen und wie Schwestern aufwachsen.«
»Vielleicht in der Absicht, dass sie Schwägerinnen würden. Lady Catherine hat mir damals unmissverständlich erklärt, dass du für ihre Tochter vorgesehen seist.«
»Von ihr vorgesehen, aber gewiss nicht von meiner Mutter. Das war ein zusätzlicher Grund, weshalb wir nicht wollten, dass Lady Catherine Georgianas Vormund wurde. Doch sosehr ich es auch verurteile, dass meine Tante sich ständig in anderer Leute Angelegenheiten einmischt, muss ich doch sagen, dass sie mehr Verantwortungsbewusstein gezeigt hätte, als ich es tat. Ihr hätte sich eine Mrs. Younge nicht aufdrängen können. Ich setzte Georgianas Glück aufs Spiel und vielleicht sogar ihr Leben, indem ich sie der Verfügungsgewalt dieser Frau überließ. Mrs. Younge wusste von vornherein, worauf sie hinauswollte, und Wickham gehörte von Beginn an zu ihrem Plan. Er machte es sich zur Aufgabe, sich über alles, was in Pemberley geschah, auf dem Laufenden zu halten, erzählte ihr, dass ich auf der Suche nach einer Gesellschafterin für Georgiana war, und sie bewarb sich unverzüglich für die Stelle. Mrs. Younge hatte erkannt, dass er es zu der Lebensweise, auf die er ein Recht zu haben glaubte, am ehesten bringen würde, indem er seine ausgeprägte Fähigkeit, Frauen zu betören, einsetzte und Geld heiratete, und das ausgewählte Opfer war Georgiana.«
»Glaubst du wirklich, dass die beiden diese infame Intrige schon vor deiner ersten Begegnung mit Mrs. Younge ausgeheckt hatten?«
»Ich bin mir absolut sicher. Wickham und sie hatten Georgianas Flucht von Anfang an geplant. Das gab er bei dem Gespräch in der Gracechurch Street zu.«
Sie saßen eine Weile schweigend da und betrachteten die Wirbel und Strudel, die sich im Fluss über den flachen Steinen bildeten, bis sich Darcy plötzlich von dem Anblick losriss.
»Doch es gibt noch mehr zu sagen. Wie konnte ich nur so gefühllos und anmaßend sein und versuchen, Bingley von Jane zu trennen? Wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, mit ihr zu sprechen, ihre Sanftmut und Güte kennenzulernen, wäre mir bewusst geworden, dass sich Bingley hätte glücklich schätzen dürfen, ihre Liebe zu erringen. Ich hatte wohl Angst, dass es mir mit einer Heirat zwischen Bingley und deiner Schwester noch schwerer fallen würde, meine Liebe zu dir zu bezwingen – eine Leidenschaft, die zu einem übermächtigen Verlangen geworden war, das ich jedoch glaubte niederringen zu müssen. Weil das Leben meines Großvaters einen Schatten auf die Familie geworfen hatte, war mir schon als kleinem Kind beigebracht worden, dass große Besitztümer große Verantwortung mit sich bringen und dass die Sorge um Pemberley und um die vielen Menschen, deren Lebensglück und Lebensunterhalt darauf beruhen, eines Tages auf meinen Schultern lasten würde. Dass persönliche Wünsche und privates Glück hinter dieser nahezu heiligen Pflicht stets an zweiter Stelle zu stehen haben …
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