Kaum hatten sie die Schritte gehört, waren Mr. und Mrs. Gardiner aus dem Zimmer geeilt. Darcy vernahm ihre Stimmen, doch keine Erwiderung. Dann wurde die Zimmertür geöffnet. Die Gardiners traten ein und stupsten Wickham, der mit Alveston gekommen war, sanft in den Raum.
Darcy hoffte, man würde ihm seinen Schreck und sein Entsetzen nicht anmerken. Es war kaum zu glauben, dass der Mann, der die Kraft aufgebracht hatte, kerzengerade in der Anklagebank zu stehen und mit klarer, fester Stimme seine Unschuld zu beteuern, derselbe Wickham gewesen war, der jetzt vor ihnen stand. Er wirkte wie geschrumpft, die Kleider, die er vor Gericht getragen hatte, schienen ihm jetzt viel zu groß zu sein, schäbige, billige, schlecht sitzende Sachen für einen Mann, von dem man nicht erwartet hatte, dass er sie lange tragen würde. Sein Gesicht war noch von der ungesunden Gefängnisblässe gezeichnet, doch als Darcy ihm kurz in die Augen sah, blitzte in dem berechnenden, verächtlichen Blick der alte Wickham auf. Allem voran aber wirkte er so erschöpft, als hätten das Entsetzen über den Schuldspruch und die Erleichterung über die gewährte Gnade mehr Kraft verbraucht, als ein Menschenkörper besaß. Doch es gab ihn noch, den alten Wickham, und Darcy erkannte, wie tapfer und angestrengt er aufrecht zu stehen und sich dem, was nun kam, zu stellen versuchte.
»Lieber Mr. Wickham«, hob Mrs. Gardiner an, »Sie müssen schlafen – essen vielleicht auch, aber vor allem schlafen! Ich zeige Ihnen ein Zimmer, in dem Sie ruhen und etwas zu sich nehmen können. Es wäre doch wirklich besser, wenn Sie ein Stündchen schliefen oder zumindest ruhten, ehe Sie miteinander sprechen.«
Wickham erwiderte, ohne den Blick von den Anwesenden zu wenden: »Ich danke Ihnen für Ihre Güte, Madam, doch wenn ich jetzt schlafen würde, wäre es für viele Stunden, und leider habe ich mir angewöhnt zu hoffen, dass ich niemals wieder aufwache. Ich muss mit den Gentlemen reden, es duldet keinen Aufschub. Es geht mir gut, Madam – aber wenn ich einen starken Kaffee bekäme und vielleicht einen kleinen Imbiss …«
Mrs. Gardiner warf Darcy einen Blick zu und sagte: »Selbstverständlich. Entsprechende Anweisungen wurden bereits erteilt, und ich kümmere mich sofort darum. Mr. Gardiner und ich werden uns nun zurückziehen, damit Sie Ihre Geschichte erzählen können. Soweit ich unterrichtet bin, wird Reverend Cornbinder Sie vor dem Abendessen abholen und Ihnen die Nacht über bei sich Unterkunft gewähren, damit Sie dort fest und ungestört schlafen können. Mr. Gardiner und ich geben Ihnen unverzüglich Bescheid, sobald er hier eintrifft.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum und schloss leise die Tür.
Darcy riss sich aus der Unschlüssigkeit, die ihn einen Moment lang befallen hatte, ging mit ausgestrecktem Arm auf Wickham zu und sagte in einem Tonfall, der selbst in seinen eigenen Ohren kühl und förmlich klang: »Ich beglückwünsche Sie zu der inneren Stärke, die Sie während Ihrer Haft bewiesen haben, und zur Befreiung von einer ungerechtfertigten Anschuldigung, Wickham. Bitte machen Sie es sich bequem. Wenn Sie etwas gegessen und getrunken haben, beginnen wir mit unserem Gespräch. Es gibt viel zu erzählen, aber wir können warten.«
»Ich erzähle es lieber sofort«, entgegnete Wickham und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Die anderen taten es ihm gleich. Dann trat befangenes Schweigen ein, und als wenig später die Tür aufging und ein Diener auf einem großen Tablett eine Kanne Kaffee und einen Teller mit Brot, Käse und Wurst brachte, atmeten alle erleichtert auf. Kaum war der Diener verschwunden, schenkte sich Wickham Kaffee ein und stürzte ihn hinunter. »Verzeihen Sie meine schlechten Manieren«, sagte er, »aber mein letzter Aufenthaltsort war keine gute Schule für kultiviertes Betragen.«
Nachdem er einige Minuten lang gierig gegessen hatte, schob er das Tablett zur Seite. »Ich sollte wohl besser beginnen. Colonel Fitzwilliam wird einen großen Teil meines Berichts bestätigen können. Da Sie mich bereits als Schurken abgestempelt haben, wird Sie das, was ich meinem Sündenregister hinzufügen muss, kaum überraschen.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie haben bereits einer Jury gegenübergestanden – wir sind keine zweite«, sagte Darcy.
Wickham lachte auf. Es war ein hoher, kurzer, heiserer Laut, der wie ein Bellen klang. »Dann kann ich nur hoffen, dass Sie weniger voreingenommen sind. Colonel Fitzwilliam hat Ihnen das Wichtigste sicherlich bereits mitgeteilt.«
»Ich habe nur erzählt, was ich weiß«, erklärte der Colonel, »und das ist nicht eben viel. Keiner von uns hier glaubt, dass Ihre Verhandlung die ganze Wahrheit ans Licht gebracht hat. Wir haben auf Sie gewartet, um die vollständige Geschichte zu hören. Wir haben ein Anrecht darauf.«
Wickham schwieg eine Weile und betrachtete seine gefalteten Hände. Schließlich richtete er sich erkennbar mühsam auf und begann mit so ausdrucksloser Stimme zu sprechen, als könnte er seine Geschichte auswendig.
»Sie werden inzwischen wissen, dass ich der Vater von Louisa Bidwells Kind bin. Wir begegneten uns im Sommer vorletzten Jahres, als sich meine Frau in Highmarten aufhielt, wo sie gewöhnlich mehrere Sommerwochen verbrachte, und da ich dort nicht geduldet war, quartierte ich mich bei diesen Gelegenheiten immer im billigsten Gasthof am Ort ein, wo ich mich mit ein wenig Glück hin und wieder mit Lydia treffen konnte. Da ich den Boden von Highmarten verunreinigt hätte, wenn ich dort spazieren gegangen wäre, hielt ich mich oft im Wald von Pemberley auf. Ich habe dort einige der glücklichsten Stunden meiner Kindheit verbracht, und im Zusammensein mit Louisa empfand ich wieder diese jugendliche Freude. Ich lernte sie zufällig kennen, während ich durch den Wald streifte. Auch sie fühlte sich einsam, war wegen ihres todkranken Bruders an das Cottage gefesselt und konnte ihren Verlobten, der sich aus Ehrgeiz und seiner Anstellung wegen fast ständig in Pemberley aufhielt, nur selten sehen. Ihrer Schilderung nach war er ein geistloser älterer Mann, dem nur daran lag, sich seine Knechtschaft zu erhalten, und der nicht spürte, dass seine Verlobte gelangweilt und rastlos war. Überdies ist sie intelligent, was er nicht einmal dann zu schätzen gewusst hätte, wenn er verständig genug gewesen wäre, es zu erkennen. Ich gestehe, dass ich sie verführte, aber genötigt habe ich sie nicht. Ich hatte noch nie Anlass, ein weibliches Wesen zu entehren, und niemals war ich einer jungen Frau begegnet, die so begierig nach Liebe war.
Als sie bemerkte, dass sie sich in anderen Umständen befand, war das für uns beide eine Katastrophe. Verzweifelt erklärte sie, dass außer ihrer Mutter, vor der es sich kaum verbergen ließ, niemand davon erfahren dürfe. Louisa wollte die letzten Lebensmonate ihres Bruders nicht belasten, doch als ihm der Verdacht kam, gab sie es zu. Am wichtigsten war ihr, den Vater nicht zu betrüben. Das arme Ding wusste, dass die Aussicht, Schande über Pemberley zu bringen, für diesen Mann schlimmer war als alles, was ihr hätte zustoßen können. Ich sah nicht ein, warum ein Kind der Liebe etwas Schändliches sein sollte – immerhin trifft man dergleichen in großen Häusern oft genug an –, doch sie empfand nun einmal so. Es war ihre Idee, mit Billigung ihrer Mutter zur Schwester zu ziehen, ehe ihr Zustand sichtbar wurde, und das Kind dort zu gebären. Es sollte als das ihrer Schwester ausgegeben werden, und ich schlug vor, dass sie, sobald sie reisefähig sei, mit dem Säugling zurückkäme, um ihn der Großmutter zu zeigen. Ich musste sicherstellen, dass das Kind lebte und gesund war, ehe ich entscheiden konnte, wie ich weiter verfahren sollte. Wir vereinbarten, dass ich Geld aufbringen würde, um die Familie Simpkins überreden zu können, das Kind zu sich zu nehmen und als ihr eigenes großzuziehen. Daraufhin sandte ich Colonel Fitzwilliam ein Schreiben mit der flehentlichen Bitte, mir zu helfen, und als Georgie nach Birmingham zurückgebracht werden sollte, gab mir der Colonel dreißig Pfund. Doch all das wissen Sie sicherlich schon. Seinen Worten zufolge tat er es aus Mitleid mit einem Soldaten, der unter ihm gedient hatte, doch sein Beweggrund war zweifellos ein anderer. Louisa hatte von einigen Dienstboten erfahren, es gehe das Gerücht, der Colonel suche sich in Pemberley eine Frau. Ein stolzer, kluger Mann, obendrein reich und adelig, lässt sich nicht in einen Skandal verwickeln, ganz zu schweigen von einer so gewöhnlichen, schäbigen Sache. Er war ebenso wenig darauf erpicht, mein uneheliches Kind im Wald von Pemberley spielen zu sehen, wie es Darcy gewesen wäre.«
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