5
Die Nachricht von Wickhams Begnadigung hatte allen eine schwere Last von der Schulter genommen, doch niemand sah Anlass zum Jubeln. Sie hatten so viel erdulden müssen, dass sie nur noch aufrichtige Dankbarkeit für seine Errettung empfinden und sich auf die ersehnte Heimkehr vorbereiten konnten. Elizabeth wusste, dass es Darcy ebenso sehr nach Pemberley zog wie sie, und wollte am nächsten Morgen aufbrechen. Dies erwies sich jedoch als unmöglich. Darcy musste sich bezüglich der Übergabe des für Wickham bestimmten Geldes an Reverend Cornbinder mit seinen Anwälten beraten; überdies war tags zuvor ein Brief von Lydia eingetroffen, in dem sie mitteilte, nach London kommen zu wollen, um so schnell wie möglich ihren geliebten Ehemann zu sehen und, wie sie durchblicken ließ, mit ihm zusammen im Triumph nach Longbourn zurückzukehren. Sie plante, in Begleitung eines Dieners, in der Familienkutsche anzureisen, und setzte es als selbstverständlich voraus, dass sie in der Gracechurch Street wohnen würde. Für John ließe sich ein Bett in einem Gasthof finden. Da sie den voraussichtlichen Zeitpunkt ihrer Ankunft am nächsten Tag nicht genannt hatte, begann Mrs. Gardiner unverzüglich, die Schlafordnung zu ändern und in den Stallungen Platz für eine dritte Kutsche zu schaffen. Elizabeth verspürte nur mehr abgrundtiefe Müdigkeit und verhinderte mit äußerster Willensanstrengung, dass sie in erleichtertes Schluchzen ausbrach. Das Bedürfnis, ihre Kinder wiederzusehen, nahm all ihre Gedanken ein, und sie wusste, dass dies auch für Darcy galt. Am übernächsten Tag wollten sie endlich nach Hause fahren.
Am nächsten Morgen schickten sie einen Boten nach Pemberley, der Stoughton mitteilen sollte, wann er sie zurückerwarten dürfe. Doch auch nachdem alle notwendigen Formalitäten erledigt und die Truhen gepackt waren, blieb noch so viel zu tun, dass Elizabeth Darcy kaum zu Gesicht bekam. Beiden war das Herz zu schwer, um viel zu sprechen, und dass Elizabeth wieder glücklich sein würde, sobald sie zu Hause war, wusste sie eher, als dass sie es spürte. Sie hatten befürchtet, eine Heerschar von Gratulanten könnte den Weg in die Gracechurch Street finden, sobald sich die Nachricht von der Begnadigung erst einmal verbreitet hätte, doch glücklicherweise geschah dies nicht. Die Familie, bei der Reverend Cornbinder Wickham untergebracht hatte, verhielt sich überaus diskret, und da niemand Wickhams Aufenthaltsort kannte, kam es nur vor dem Gefängnis zu Menschenaufläufen.
Am nächsten Tag traf nach dem Mittagessen die Kutsche der Familie Bennet mit Lydia ein, was aber auch keinerlei öffentliches Interesse erregte. Erleichtert stellten die Darcys und die Gardiners fest, dass sich Lydia zurückhaltender und vernünftiger benahm, als zu erwarten gewesen war. Die Aufregung der vergangenen Monate und das Wissen, dass es bei dem Prozess ihres Mannes um Leben und Tod ging, hatten ihren Übermut gedämpft. Sie brachte es gar über sich, Mrs. Gardiner mit nahezu ehrlich empfundener Erkenntlichkeit und aus Einsicht in deren Güte und Großherzigkeit für die erwiesene Gastfreundschaft zu danken. Da sie sich bei Elizabeth und Darcy weniger sicher war, bekamen diese beiden keinen Dank zu hören.
Noch vor dem Abendessen kam Reverend Cornbinder, um Lydia zu Wickhams Unterkunft zu bringen. Etwa drei Stunden später kehrte sie im Schutz der Dunkelheit und bester Laune zurück. Er war nun wieder ihr hübscher, galanter, unwiderstehlicher Wickham, und was die gemeinsame Zukunft betraf, so lautete ihre Überzeugung, dass das bevorstehende Abenteuer ihnen beiden Wohlstand und Ruhm bringen werde. Sie war schon immer draufgängerisch gewesen und konnte es ebenso wenig wie Wickham erwarten, Englands Erde für immer abzuschütteln. Sie zog in die Unterkunft ihres Mannes, um bei ihm zu sein, während er sich von den Strapazen erholte, ertrug jedoch nur kurze Zeit die vom Gastgeber eingeforderten Morgenandachten und Tischgebete, so dass die Kutsche der Bennets schon drei Tage später durch die Gassen Londons auf die ersehnte, nach Norden, Richtung Hertfordshire und Longbourn führende Straße zurumpelte.
6
Die Fahrt nach Derbyshire würde zwei Tage dauern, denn Elizabeth war ungemein müde und wollte nicht zu viele Stunden hintereinander unterwegs sein. Am Vormittag des auf den Prozess folgenden Montags fuhr die Kutsche vor der Haustür vor, und nachdem Darcy und Elizabeth ihren Dank ausgesprochen hatten, für den sich kaum Worte finden ließen, brachen sie auf. Den größten Teil der Fahrt hindurch dösten sie, doch als die Kutsche die Grenze zur Grafschaft Derbyshire passierte, waren sie wach und fuhren mit wachsender Freude durch vertraute Dörfer und Straßen. Tags zuvor hatten sie nur gewusst, dass sie glücklich waren; jetzt aber strömte das machtvolle Gefühl durch ihren ganzen Körper. Die Ankunft in Pemberley verlief gänzlich anders als die Abreise eine Woche zuvor. In frisch gewaschener und gebügelter Arbeitskleidung standen alle Dienstboten aufgereiht zur Begrüßung da, und als Mrs. Reynolds ihren Knicks machte und Elizabeth stumm vor Ergriffenheit wortlos willkommen hieß, hatte sie Tränen in den Augen.
Der erste Besuch galt dem Kinderzimmer, wo sie mit Freudensprüngen und Gekreisch von Fitzwilliam und Charles begrüßt wurden und sich eine Zeitlang anhörten, was Mrs. Donovan an Neuigkeiten mitzuteilen hatte. Während des einwöchigen Aufenthalts in London war so viel geschehen, dass Elizabeth glaubte, monatelang weg gewesen zu sein. Als Nächstes sollte Mrs. Reynolds Bericht erstatten. »Es gibt nichts Schlimmes zu erzählen, Madam«, versicherte sie, »aber da wäre eine Sache, über die ich mit Ihnen sprechen muss.«
Elizabeth schlug vor, wie üblich in ihr privates Wohnzimmer zu gehen. Mrs. Reynolds betätigte die Klingel und bestellte Tee für Mrs. Darcy und sich. Dann nahmen sie vor dem Kamin Platz, in dem man mehr der Gemütlichkeit als der Wärme halber Feuer gemacht hatte, und Mrs. Reynolds begann zu erzählen.
»Wir haben natürlich von Wills Geständnis im Zusammenhang mit Captain Dennys Tod gehört, und viele Leute bringen großes Mitgefühl für Mrs. Bidwell auf. Allerdings werfen einige Will vor, nicht schon früher etwas gesagt und dadurch Mr. Darcy, Ihnen und Mr. Wickham viel Kummer und Leid erspart zu haben. Er glaubte, Zeit zu brauchen, um seinen Frieden mit Gott zu machen, aber manche denken, dass der Preis dafür zu hoch war. Er wurde im Kirchhof begraben. Mr. Oliphant sprach sehr gefühlvoll, und Mrs. Bidwell freute sich über die vielen Menschen, die gekommen waren, darunter zahlreiche aus Lambton. Der Blumenschmuck war ganz besonders schön, und Mr. Stoughton und ich haben veranlasst, dass ein Kranz von Mr. Darcy und Ihnen in die Kirche gebracht wurde. Wir waren uns sicher, dass dies Ihrem Willen entsprach. Aber nun muss ich von Louisa erzählen.
Am Tag nach Captain Dennys Tod kam Louisa zu mir und bat mich um ein streng vertrauliches Gespräch. Ich führte sie in mein Zimmer, wo sie völlig verzweifelt zusammenbrach. Nachdem ich sie mit viel Mühe und Geduld beruhigt hatte, berichtete sie mir, was vorgefallen war. Vor dem Besuch des Colonels im Cottage, in der Nacht, in der sich die Tragödie zutrug, hatte sie nicht einmal geahnt, dass Mr. Wickham der Vater ihres Kindes war. Mit der Geschichte, die er ihr erzählte, hat er sie offenbar schlimm getäuscht, Madam. Sie wollte ihn nie mehr sehen und liebte auch das Kind nicht mehr. Mr. Simpkins und ihre Schwester wollten den Kleinen nicht, und Joseph Billings, der von dem Kind wusste, war nicht bereit, Louisa zu heiraten, wenn dies bedeuten sollte, dass er die Verantwortung für den Sprössling eines anderen übernehmen musste. Sie hatte ihm von ihrem Liebhaber erzählt, Mr. Wickhams Namen jedoch nie preisgegeben, was meiner und Louisas Ansicht nach auch so bleiben soll, um Bidwell nicht unnötig zu beschämen und zu quälen. Louisa wollte ein gutes, liebevolles Zuhause für ihren Sohn finden. Deshalb war sie zu mir gekommen, und ich erklärte mich bereit zu helfen. Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich einmal von der Witwe meines Bruders gesprochen habe, Madam. Sie heißt Mrs. Goddard und hat einige Jahre lang ein angesehenes Internat in Highbury geleitet. Eine ihrer Schülerinnen, Miss Harriet Smith, heiratete Robert Martin, einen Bauern aus dem Ort, und hat ihr Glück gemacht. Sie haben drei Töchter und einen Sohn, aber der Arzt meinte, sie werden wohl keine weiteren Kinder bekommen. Nun hätten sie jedoch gern noch einen Sohn als Spielkameraden für ihren Kleinen. Mr. und Mrs. Knightley aus Donwell Abbey sind das wichtigste Ehepaar in Highbury, und Mrs. Knightley ist mit Mrs. Martin befreundet und hat sich immer sehr für deren Kinder interessiert. Sie hatte die Güte, mir einen Brief zu schreiben, den ich zusätzlich zu denen von Mrs. Martin erhielt und in dem sie mir ihre Hilfe und ihr anhaltendes Interesse an Georgie zusicherte, sollte er nach Highbury kommen. Ich hielt das für die beste Unterbringung, die er haben könnte, und so vereinbarten wir, dass er so bald wie möglich zur Familie Simpkins zurückkehren sollte, um dann von Birmingham statt von Pemberley abgeholt zu werden, wo die von Mrs. Knightley geschickte Kutsche sehr wahrscheinlich aufgefallen wäre. Alles lief wie geplant, und in den Briefen, die ich in der Zeit danach erhielt, wurde mir versichert, dass sich das Kerlchen gut eingelebt hat und ein glückliches, bezauberndes Kind ist, das von der ganzen Familie geliebt wird. Ich habe diese Briefe selbstverständlich für Sie aufgehoben. Mrs. Martin war entsetzt, als sie erfuhr, dass Georgie noch nicht getauft war – das haben sie inzwischen in der Kirche in Highbury nachgeholt. Er heißt jetzt John, nach dem Vater von Mrs. Martin.
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