»Wieso ist die Sonne abends immer rot?«
»Manche behaupten«, sagte Athelstan, »weil die Sonne in die Hölle hinabsteigt, aber ich glaube, das ist ein Altweibermärchen. Kommt, Sir John.«
Athelstan umkurvte den Coroner und hakte sich taktvoll bei ihm ein; Benedicta übernahm die andere Seite, und sie überquerten die inzwischen verlassene Cheapside. Allenthalben wurden Stände weggepackt, und die letzten eisenbeschlagenen Karren polterten in Richtung Newgate oder ostwärts nach Aldgate. Müde Lehrjungen und Händler machten ihre Läden zu und hängten Lichthörner heraus. St. Mary Le Bow begann mit dem Abendläuten, das Zeichen, daß aller Handel aufzuhören habe, und vier Jungen schleppten einen dicken Weihnachtsklotz zur Tür eines großen Kaufmannshauses. Cranston blieb stehen, um einen Marktwächter in seinem Zollhäuschen an der Ecke der Wood Street nach dem Weg zu fragen. Der Mann deutete zur Ecke Mercery und Lawrence Street.
»Dort findet Ihr Hornes Haus«, sagte er. »Ein schönes Haus mit einer großen schwarzen Holztür und einem Wappen darüber.« Sie machten kehrt und hielten sich in der Mitte der Cheapside, denn der schmelzende Schnee rutschte hier und da von den schrägen Ziegeldächern herunter. Das Hornesche Haus wirkte verlassen; keine Laterne hing über der Tür, nur ein müde aussehender Weihnachtskranz. Cranston trat zurück und schaute zu den bleiverglasten Fenstern hinauf.
»Kein Kerzenlicht«, brummte er.
Athelstan zog Benedicta näher an die Hauswand, um sie vor dem Schnee, der von dem kleinen Vordach über der Haustür herunterrutschen konnte, in Sicherheit zu bringen. Er hob den großen, wie ein Drachenkopf geformten Messingklopfer und ließ ihn krachend fallen. Nichts rührte sich, und so klopfte er noch einmal. Jetzt hörte man Schritte, und eine käsige Magd öffnete die Tür.
»Ist der Ratsherr Horne zu Hause?« fragte Cranston.
Das junge Mädchen schüttelte wortlos den Kopf.
»Wer ist da?« fragte eine Stimme aus der Dunkelheit hinter ihr. »Lady Horne?« rief Cranston. »Ich bin Sir John Cranston, der Coroner. Ihr habt heute den Sheriffs im Rathaus eine Nachricht geschickt?«
Eine Frau trat aus der Dunkelheit, und die brennende Kerze in ihrer Hand ließ ihr kummervolles Gesicht noch bleicher erscheinen. Ihre Wangen waren tränenfeucht, ihre traurigen Augen von dunklen Schatten umringt, und ihr stahlgraues Haar hing unordentlich unter einem weißen Schleier.
»Sir John!« Sie lächelte gezwungen. »Kommt doch herein. Mädchen, zünde die Fackeln auf dem Söller an. Und bring Kerzen her.«
Lady Horne führte sie über einen Gang in einen bequemen, aber kalten Söller. Im Kamin flackerte ein schwaches Feuer. Lady Horne ließ sie Platz nehmen, während das Mädchen Kerzen entzündete. Athelstan sah sich um. Der Raum war luxuriös eingerichtet mit farbenfrohen Wandbehängen und exquisit bestickten Leinentüchem auf Tischen, Truhen und Stuhllehnen. Trotzdem glaubte er, den Gestank der Angst fast zu riechen: Das Haus war zu still. Er sah Lady Horne an, die an der anderen Seite des Kamins saß und einen Rosenkranz aus Elfenbein und Perlen um die Finger geschlungen hatte.
»Möchtet Ihr eine Erfrischung?« fragte sie mit leiser Stimme. Cranston wollte antworten, aber Athelstan schnitt ihm das Wort ab.
»Nein, Mylady. Die Sache ist dringend. Wo ist Euer Mann?«
»Ich weiß es nicht«, wisperte sie. »Diese schreckliche Nachricht kam heute morgen, und Sir Adam ist gleich darauf gegangen. Er sagte, er wolle den Fluß hinauf zu den Speichern.« Sie preßte die Hände zusammen. »Ich habe einen Boten hingeschickt, aber der Junge kam zurück und sagte, mein Mann sei schon weg. Sir John, was ist nur los?« Ihre müden Augen flehten den Coroner an. »Was hat das alles zu bedeuten?«
»Ich weiß nicht«, log er. »Aber Euer Gatte, Lady Horne, ist in schrecklicher Gefahr. Weiß jemand, wohin er gegangen ist?« Die Frau senkte den Kopf, und ein Schluchzen ließ ihre Schultern beben. Benedicta stand auf, kauerte sich neben sie und streichelte sanft ihre Hände.
»Lady Horne, bitte«, drängte Athelstan. »Wißt Ihr etwas über die Nachricht? Wovor hatte Euer Gemahl solche Angst?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber Adam kannte keinen Frieden.« Sie blickte auf. »Er war ein Mann von großem Reichtum, aber nachts wachte er oft auf und schrie etwas von einem feigen, blutigen Mord und war schweißgebadet. Manchmal zitterte er danach noch eine Stunde lang. Aber nie hat er sich mir anvertraut.«
Cranston schaute zu Athelstan herüber und verzog das Gesicht. Der Bruder schaute auf die Stundenkerze, die hinter ihm auf dem Tisch stand.
»Sir John«, sagte er und erhob sich, »es ist fast sieben. Wir müssen gehen.«
»Lady Horne.« Die Kaufmannsfrau wollte aufstehen, aber Cranston legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Bleibt hier und haltet Euch warm; das Mädchen wird uns hinausbringen. Wenn Euer Mann zurückkommt, sagt ihm, er soll mich zu Hause aufsuchen. Das ist nicht weit. Versprecht Ihr mir das?«
Die Frau nickte, bevor sie sich abwandte und in die verlöschende Glut schaute.
Draußen stampfte Cranston mit den Füßen und klatschte in die Hände.
»Diese Frau hat schreckliche Angst«, stellte er fest. »Ich vermute, sie weiß, woher der Reichtum ihres Mannes stammt. Aber was können wir tun? Horne kann überall in der Stadt sein.« Athelstan zuckte die Achseln. »Sir John, Benedicta und ich müssen jetzt ins Gefängnis von Fleet. Wir haben der Pfarrgemeinde versprochen, Simon, den Zimmermann, zu besuchen.«
»Ah ja«, erwiderte Cranston bissig. »Den Mörder.«
»Ihr geht nach Hause?«
Sir John starrte in die Dunkelheit. Gern hätte er das getan, aber wozu? Er würde nur dasitzen und sich um den Verstand saufen. »Sir John«, wiederholte Athelstan, »Lady Maude wartet schon auf Euch.«
»Nein«, antwortete Cranston störrisch. »Ich gehe mit zum Gefängnis. Vielleicht kann ich helfen.«
Athelstan warf Benedicta einen Blick zu und verdrehte dann die Augen gen Himmel. Gern wäre er Sir John losgeworden; er hatte die dauernde schlechte Laune und die jähen Tobsuchtsanfälle des Coroners satt. Er liebte den fetten Edelmann, aber jetzt hätte er ihn zu gern von hinten gesehen. Trotzdem willigte er ein.
Sie stapften durch den blutbespritzten Schneematsch der Shambles und hielten sich vor dem ekelhaften, fauligen Gestank aus dem Schlachthaus die Nase zu. Dann ging es nach links in die Old Deans Lane, eine schmale Gasse, wo der Spülicht knöcheltief zwischen den dunklen, überhängenden Häusern dahinfloß. In der Feme bellte traurig ein Hund. An der Ecke der Bowyers Row mußten sie einem großen Holzkarren ausweichen, der von vier Pferden mit gestutzten Mähnen und Scheuklappen gezogen wurde. Ihre Nüstern blähten sich im Verwesungsgeruch des Todes. Die Hufe der Pferde und die Räder des Karrens waren mit Stroh umwickelt, und das Gespann schien vorüberzugleiten wie ein grausiger Spuk. Auf einer Ecke des Karrens steckte eine lodernde Fackel und beleuchtete den Kutscher wie ein gespenstisches Relief; vermummt und verhüllt hockte er da, eine grimmige Todesmaske vor dem Gesicht.
»Was ist das?« fragte Benedicta.
Sie hob ihren Mantelsaum vor die Nase. Athelstan schlug ein Kreuz und betete, der Karren möge weiterfahren, aber er blieb neben ihnen stehen. Der Kutscher versuchte, die Pferde zu beruhigen, als zwei kreischende Katzen, die sich um irgendwelches Ungeziefer balgten, aus dem Schatten hervorschossen. Cranston wußte, was auf dem Karren war; er hatte in dem Kutscher den Henker von Tyburn erkannt.
»Nicht hin schauen«, flüsterte er.
Aber Benedictas Neugier war geweckt; sie stützte sich auf Athelstans Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte über den Rand des Karrens. Entsetzt erblickte sie weiße, gefrorene Kadaver unter einer zerfetzten Segeltuchplane. Die Glieder waren merkwürdig verdreht; um den Hals hatte jeder einen dicken, purpurroten Strich, und ihre ebenso leuchtendroten Gesichter waren verzerrt. Geschwollene Zungen klemmten zwischen eiskalten Lippen, und von den Augen war nur das Weiße zu sehen. »Oh, gütiger Gott!« hauchte sie und lehnte sich an die Hauswand. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und der Karren rollte weiter.
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