„Was geschah nun weiter, Herr Siegram?“, fragte der Graf.
„Ich ging hinunter zum Wasser, um hinter den Weiden dort ein Bad zu nehmen. Es war herrlich erfrischend! Als ich zurück ans Ufer stieg, bemerkte ich, dass ich das duftende Öl vergessen hatte, mit dem ich mich nach dem Bade zu salben pflege. Ich schickte den Jungen nach unserm Gepäck, das schon ins Saalhaus gebracht war. Als er wiederkam, war er ganz aufgeregt! Zwischen den beiden edlen Frauen, berichtete er, sei ein Streit ausgebrochen. Frau Chrodelind habe Frau Begga verspottet und sie gefragt – ich gebe nur wieder, was der Junge gehört hat –, ob sie die Absicht habe, mich zu verführen und sich deshalb mit gestohlenen Juwelen schmücke. Der Junge konnte die beiden nicht sehen. Er hörte dann nur noch ein klatschendes Geräusch und gleich darauf ein gellendes Hohngelächter sowie den Ruf: ‚Diebin! Mörderin!‘ Er konnte aber nicht genau sagen, wer diesen schrillen Ruf ausgestoßen hatte. Es war ihm unheimlich und er lief fort. Atemlos kam er ans Ufer zurück und hatte sogar das Salböl vergessen.“
Das war ein Stich ins Wespennest.
Frau Begga rief zornbebend: „Eine Lüge ist das! Kein Wort ist wahr!“
Raue Stimmen grollten von der Wiese zurück: „Wir wissen schon, wer die Diebin ist!“ – „Von einer Mörderin haben wir auch schon gehört!“
Es war ein Tumult und der Graf machte keine Anstalten einzugreifen. Seine Miene drückte sogar eine grimmige Befriedigung aus. Odo kaute an einem Grashalm und tat so, als hörte er nur Kühe muhen und Hunde bellen. Arnfried und Hauk bemühten sich, Frau Begga zurückzuhalten, die sich auf einen der Rufer stürzen wollte.
Das ging mir zu weit, ich sah die Würde des Gerichts in Gefahr. Also sprang ich auf und verschaffte mir schließlich Ruhe.
Dann sagte ich streng zu Siegram: „Bevor Ihr weitersprecht, gebt uns Auskunft! Ist der Junge, der Euch begleitet, ein Freier oder Unfreier?“
„Ein Unfreier“, antwortete er.
„Dann ist er nicht zeugnisberechtigt und was er gesehen und gehört hat, das hat niemand gesehen und gehört. Ich muss Euch ermahnen, hier nur noch wiederzugeben, was Ihr selbst mit Euren Sinnen wahrgenommen habt. Was geschah nun, als Ihr vom Bade zurückkehrtet?“
„Frau Begga empfing mich allein. Sie war in der Tat verwandelt, ich erkannte sie kaum wieder. Sie war geschmückt wie zu ihrer eigenen Hochzeit und bemalt wie ein Normannenboot, so wie Ihr es ja dann selbst gesehen habt. Ich musste annehmen, dass dies meinetwegen geschehen war. Was Frau Chrodelind betrifft, so war sie verschwunden, und erst jetzt sagte mir Frau Begga, dass sie unpässlich sei. Das wunderte mich natürlich, war sie doch eben noch munter wie eine Forelle gewesen. Ich verstehe ein wenig von der Heilkunst, auf Reisen widerfährt einem dies und jenes und man muss sich zu helfen wissen. So bot ich meinen Rat an und bat, mich zu der Kranken zu führen. Doch davon wollte Frau Begga nichts wissen. Sie habe, sagte sie, für diesen Fall ein Hausmittel und ich solle mich nicht weiter sorgen und mir das Mahl schmecken lassen. Ich bedankte mich für die Gastfreundschaft und da meinte sie, wenn ich ihr dafür eine Freude machen wolle, möge ich etwas vortragen. Es sei ihr innigster Wunsch, einmal wieder den Gesang eines Skops zu hören.“
„Aber Ihr wolltet nicht singen“, sagte der Graf, „weil Ihr den König und sein Gefolge vermisstet.“
Her Siegram wiederholte freimütig, was er schon mir über die Kunst des Gesangs und ihren höheren Zweck erklärt hatte. Er habe die Bitte auch als lästig empfunden, den Preis für eine Hühnerkeule und eine harte Bank in der Nacht als zu hoch und deshalb nach Argumenten gesucht, um abzulehnen. Doch sei er von der edlen Frau so heftig bedrängt worden, dass er schließlich klein beigegeben habe.
„Ich gestehe, dass mir die Aufmerksamkeit Frau Beggas immer unangenehmer wurde“, sagte Siegram, „und ich wäre vielleicht noch fortgeritten, wenn es nicht schon zu spät gewesen wäre. Ich sagte also, ich würde zwar singen, aber nur für die junge Frau Chrodelind, in der Hoffnung, dass mein Gesang die magische Kraft entfalten würde, sie wieder gesund zu machen. Frau Begga nahm das sehr übel auf, ihre Miene wurde frostig und starr, und sie fragte noch einmal, ob dies die Bedingung sei. Ich bestätigte es. Da sagte sie, ihre Tochter sei so krank, dass sie nicht im Saal erscheinen könne. Doch hinter der angelehnten Tür werde sie lauschen. Ich sagte, dies gefiele mir nicht. Ich wollte der edlen jungen Frau ein paar besondere Verse widmen, die aber der Anregung durch das lebendige Bild bedurften. Da sah Frau Begga mich böse an und sagte: „Dann sei es so, aber Ihr werdet sie nur von weitem sehen!“ Denn ihre Tochter habe nicht die Kraft, sich von ihrem Ruhebett zu erheben. Frau Begga verschwand dann für einige Zeit in der Kammer, während sich im Saal ein paar Männer einfanden, die sie geladen hatte. Inzwischen war es dunkel geworden und Fackeln wurden entzündet. Dann kam die Hausherrin wieder heraus und sagte, ihre Tochter sei nun bereit, mich zu hören. Ich ergriff meine Harfe und sie öffnete die Tür zu der Kammer.“
Der Sänger schwieg und suchte nach Worten. Er schien in Verlegenheit darüber zu sein, wie er das, was nun folgte, beschreiben sollte. Odo, der ihn nicht aus den Augen ließ, kam ihm zu Hilfe.
„Ihr saht nun Frau Chrodelind wieder. Sprach sie etwas oder gab sie Euch ein Zeichen?“
„Nein“, sagte Siegram, „kein Wort, kein Zeichen. Nichts! Sie sprach nichts und sie tat auch nichts. Ich gestehe, dass ich betroffen war, denn sie war ja noch vor kurzem so lebhaft und heiter gewesen. Sie saß nur da, in halb liegender Stellung. Falls sie doch etwas tat oder sich bewegte, so bemerkte ich es jedenfalls nicht. Es gab ja auch nur sehr schwaches Licht. Man sah eigentlich nur ihre Augen, das rote Haar und das goldene Schmuckkreuz. Es ist wahr, ich versuchte während des Vortrags, etwas näher an sie heranzukommen. Frau Begga ließ es nicht zu, sie trat bei jedem dieser Versuche dazwischen. Das war alles sehr seltsam und im Stillen nahm ich mir vor, später doch an das Lager zu treten, weil ich mehr über diese eigenartige, plötzlich ausgebrochene Krankheit erfahren wollte. Aber dann kamen die Herren Königsboten, es wurde spät und ich unterließ es.“
Der Sänger hatte jetzt alles abgelegt, was auf Wirkung bedacht war. Ein wenig gebeugt und ratlos stand er vor der Versammlung. Auch wir Richter und die Männer auf der Wiese schwiegen. Weit im Hintergrund standen kleine Gruppen unbefugter Zuhörer, wohl Knechte und Mägde des Herrenhofes. Frau Begga hatte sich abgewandt, blickte ins Nirgendwo und nestelte an der Fibel mit dem Vogelkopf.
Die Pause war endlos.
Plötzlich erhob sich Odo entschlossen, trat an den Sänger heran und sah ihm scharf in die Augen.
„Nun, jetzt antwortet uns, so gut Ihr könnt, Herr Siegram! Glaubt Ihr, dass sie schon tot war?“
Der Sänger starrte Odo entgeistert an. Er faltete die Hände über der Brust und bewegte die Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen. Auch ich war erschrocken über die Kühnheit dieser Vermutung. Alle hielten den Atem an. Sogar der Wind schien stillzustehen, kein Blatt an der Esche bewegte sich.
„Ich frage Euch, ob Ihr der Meinung seid, dass sie während Eures Vortrags schon tot war“, drängte Odo. „Äußert Euch doch! Was meint Ihr?“
„Es wäre möglich …“, stammelte der Sänger. „Aber nein!“, rief er plötzlich. „Wie konnte sie dann …“
„Nun?“
„Wie konnte sie mich dann zu Versen angeregt haben? Ihr Haar …, ‚des Abendrots purpurner Schimmer‘. Und in ihren Augen ‚der Ewigkeit stiller Glanz‘ …“
„,Der Ewigkeit stiller Glanz‘?“, rief Odo. „Aber das ist es ja. Der Tod!“
„Der Tod?“
„Ihr habt es bemerkt und uns allen, die wir dabei waren, mitgeteilt! Doch niemand hat richtig zugehört.“
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