Frau Begga ließ einen Schluchzer hören und drückte den Zipfel des Schleiers vor ihre Augen.
„Sie kam aus dem Webhaus“, fuhr sie fort, „hatte sich zu den Mägden gesetzt, damit das fröhliche Geschwätz ihre trüben Gedanken verscheuchte. Sie bangte um Farold, ihren Mann, der ja auch in den Krieg gezogen war. Das erste Mal, seit sie verheiratet waren! Die Mägde hatten sie nicht aufheitern können. Ich erschrak, als ich sie auf mich zu kommen sah. Sie war blass, ihre Augen waren von Tränen umflort, sie wankte. Ich trat ihr entgegen und stützte sie. ‚Mein liebes Kind‘, rief ich, ‚bist du so krank?‘ Und ich ließ sie neben mir niedersitzen. Da sah ich plötzlich, wie er sie anstarrte. Er konnte sich nicht von ihr abwenden und hatte nur noch Blicke für sie. Trotz ihres Zustands versuchte die Ärmste zu lächeln und ein wenig zu plaudern. Entzückt hing er an ihren Lippen und seine eigene Rede, meine Herren, die vorher ein Bach war, wurde ein Strom! Schnell hatte er vergessen, dass er eben noch seine Reise fortsetzen wollte. Er befahl seinem Diener, das Gepäck abzuladen. Dann bat er um unsere Erlaubnis, sich vom Reisestaub zu befreien, und stieg in den Fluss. Oh, wäre er drin ertrunken! Dann würde mein liebes Kind noch am Leben sein!“
Frau Begga zog wieder den Schleier vor das Gesicht und es schien, als könnte sie vor heftiger Erschütterung nicht weiter sprechen.
Odo raunte mir zu: „Dazu hätte sie schon mit ihm gemeinsam in den Fluss steigen müssen. Hier ertrinkt man doch nur, wenn sie nachhilft.“
Ich hatte den Sänger beobachtet, der inzwischen mehrmals heftige Zeichen des Widerspruchs gegeben hatte. Mal hatte er die Augen geschlossen und den Kopf geschüttelt, dann wieder aufgelacht wie über etwas Unfassbares.
Jetzt trat er zwei Schritte auf die Zentgräfin zu und rief: „Warum bleibt Ihr nicht bei den Tatsachen, edle Frau? Berichtet doch diesen Herren die Wahrheit! Eure Tochter war ja nicht krank …“
Hrotbert fuhr sofort streng dazwischen.
„Schweigt, Herr Siegram! Noch seid Ihr nicht aufgefordert zu reden. Sprecht weiter, Frau Begga!“
„Meiner armen Tochter ging es auf einmal so schlecht, dass sie sich niederlegen musste“, fuhr die Zentgräfin fort. „Sie hatte sich nur zusammengenommen, um unserem Gast nicht zu missfallen. Doch jetzt konnte sie sich nicht mehr aufrecht halten. Ich führte sie in das Saalhaus und bettete sie in der Kammer. Dann eilte ich, um einen Kräutersud zu bereiten, von dem ich hoffte, er würde ihr guttun. Besorgt lief ich hin und her und alle meine Sinne waren bei meinem kranken Kind, sodass ich den Gast ein wenig vernachlässigte. Plötzlich führte er sich recht seltsam auf. Ich bot ihm im Saal Platz an und ließ ihm auftragen, doch damit war er nicht zufrieden. Herrisch rief er nach Chrodelind, damit sie ihm Gesellschaft leistete. Ich musste ihn bitten, die Stimme zu dämpfen und Rücksicht zu nehmen. Schilderte ihm ihren Zustand, sagte ihm, es sei ihr unmöglich, sich zu ihm zu setzen. Auch auf das Befremdliche seines Verhaltens wies ich ihn hin. Doch er wollte nichts hören und drängte nur stärker. Da machte ich ihm den Vorschlag, für sie zu singen. Ich selber liebe die Sangeskunst und weiß um ihre erhebende Wirkung. Ich hatte die Eingebung, dass der Gesang meinem Kinde helfen könnte. Irgendwann hatte ich einmal gehört, ein kranker König sei durch einen Sänger gesund gemacht worden.“
Sie seufzte tief und betupfte ihre Augen.
„Und weiter“, sagte Graf Hrotbert. „Er war einverstanden? Er sang für sie?“
„Zunächst lehnte Herr Siegram ab. Er sah sich verächtlich um und sagte: ‚In diesem engen, dumpfen und stinkenden Saal soll ich singen?‘ Er sagte ‚stinkenden‘, meine Herren! Seine Stimme könne hier nicht erblühen, sich nicht zu ihrer vollen Höhe und Schönheit entfalten. Ich flehte, bestürmte ihn, bat ihn um Nachsicht, unserer bescheidenen Verhältnisse wegen. Er erwiderte, dass er gewöhnt sei, vor Königen, Fürsten und ihrem großen Gefolge zu singen. Ich solle ihm wenigstens ein Gefolge verschaffen, wenn schon kein Fürst vorhanden sei. So sandte ich aus, um ein paar würdige ältere Männer holen zu lassen, die jüngeren sind ja fast alle zum Heer unterwegs. Es wurde dunkel, wir zündeten Fackeln an. Schließlich waren alle versammelt. Da kam er mit einer neuen Ausflucht. Er erklärte, dass er nur singen werde, wenn Chrodelind in den Saal komme. Ich sagte: ‚Wie denn, mein teurer Herr? Sie ist viel zu schwach, sie wird hinter der Tür lauschen.‘ ‚So öffnet die Tür, damit ich sie sehe!‘, befahl er. Also tat ich, wie er mich hieß, und nun sang er endlich. Er sang herrlich, wie alle bestätigen können, die zugehört haben. Auch meine Tochter war begeistert. Als ich ihr gesagt hatte, dass Herr Siegram sie während seines Gesangvortrags sehen wollte, hatte sie mich gebeten, ihr das dunkelblaue Gewand zu bringen und das goldene Kreuz mit dem Opal. Sie wollte nicht hässlich und elend aussehen. Wie schön sie war, als sie auf dem Ruhebett lag und lauschte! Auch jetzt verschlang er sie wieder mit Blicken. Und während er sang und die Harfe schlug, versuchte er sogar, in die Kammer zu treten. Das verhinderte ich, es wäre zu aufregend für sie gewesen. Es war so schon genug! Der Gesang von den Liebenden erinnerte sie an ihren teuren Gemahl und hinterher sagte sie mir, sie hätte während des Vortrags die Ahnung gehabt, dass sie ihn nicht wiedersehen würde. Gott im Himmel, wie Recht sie hatte!“
Frau Begga schwieg und rang wieder um Fassung.
Da sagte Odo laut und vernehmlich: „Auch Euch hat der Gesang erregt, edle Frau! War dies auch die Sorge um Euern Gatten?“
„Daran solltet Ihr wohl nicht zweifeln!“, erwiderte sie, ohne zu zögern. „Aber vielleicht ist es bei den hohen Herren jetzt Mode, Frauen zu verspotten, die ihr Alleinsein beklagen und krank werden, wenn ihre Gatten abwesend sind.“
„Weiter, Frau Begga!“, drängte Hrotbert.
„Dann traten die Herrn Königsboten ein und ich begrüßte sie, wie es sich gehört. Trotz der Sorge um Chrodelind kümmerte ich mich um ihr Wohlbefinden und ließ auftragen. Nebenan begann meine Tochter wieder zu fiebern und ich malte mir aus, wie sie leiden würde, wenn ich die Gäste im Saal ihr Nachtlager aufschlagen ließe. Ich besprach mich mit Hauk, dem Bruder meines Gemahls. Er erklärte sich bereit, sie drüben bei sich im Castell zu beherbergen.“
„Natürlich war ich nicht vorbereitet!“, rief Hauk dazwischen. „Ich hatte zuletzt nicht viel Zeit, mich um mein Anwesen zu kümmern!“
„Vielleicht sind die Herren nun beleidigt“, sagte Frau Begga. „Vielleicht werfen sie mir mangelnde Gastfreundschaft vor und sind mir deshalb nicht wohlgesinnt. Aber ich konnte nicht anders handeln.“
„Wir sind nicht beleidigt“, sagte Odo. „Aber warum machtet Ihr eine Ausnahme? Wenn Euch das Betragen des Herrn Siegram gegen Eure Tochter so missfiel … warum habt Ihr sie allein mit ihm im Saalhaus gelassen?“
„Ich bemerkte zu spät, dass er geblieben war“, sagte sie, wiederum ohne lange nachzudenken. „Ich hatte Euch, wie Ihr Euch wohl erinnert, ans Tor begleitet. In der Dunkelheit übersah ich, dass er Euch nicht gefolgt war. Später konnte ich ihn ja nicht mehr wegschicken.“
„Sie hatte mich eingeladen zu bleiben!“, rief Siegram, der mit dem lebhaftesten Mienenspiel seine Empörung zeigte.
„Geduldet Euch doch!“, ermahnte ihn Hrotbert.
„Ich hatte ihn vorher eingeladen, bevor die Herren Königsboten kamen!“, widersprach Frau Begga.
„Nein!“, entgegnete Siegram. „Ihr wolltet ausdrücklich, dass ich blieb, während sie aufbrachen!“
Es gab ein heftiges Gemurmel und einige Zwischenrufe. Der Graf musste mehrmals Ruhe anmahnen.
„Kommt nun zum Schluss, Frau Begga!“
„Was sollte ich tun? Ich musste ihn unterbringen. Er hatte sich ja auch schon eingerichtet. So vertraute ich auf seinen Anstand als Edelmann. Der König hatte ihn ausgezeichnet – konnte er denn ein schlechter Mensch sein? Natürlich hätte ich Chrodelind auf die Arme nehmen und ins Schlafhaus hinüber tragen können. Doch sie war endlich eingeschlummert und ich wollte nicht, dass sie noch einmal erwachte. Also deckte ich sie mit Pelzen zu und ging leise hinaus. Ich überlegte auch, ob ich die Tür zur Kammer verschließen oder offen lassen sollte. Aber dann dachte ich, sie könnte sich fürchten, wenn sie vielleicht in der Nacht wach würde. Es könnte ja auch ein Feuer ausbrechen … Wir hatten schon Gäste im Seli, die nach Mitternacht noch ein Schwein brieten. Außerdem hatte ich die Absicht, später noch einmal nach ihr zu sehen. Dies unterblieb, das gebe ich zu. In der Nacht zuvor, als mein Gemahl zum Heer aufbrach, hatte ich kein Auge zugetan. Ich war todmüde. So verließ ich also das Saalhaus. Der Fremde lag schon auf der Bank, in seine Decken und Felle gewickelt, und schien zu schlafen. Das beruhigte mich. Ich ging hinaus und legte mich im Schlafhaus nieder. Eine Magd war es, die mich am Morgen weckte, nachdem sie die schreckliche Tat entdeckt hatte.“
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