Frau Begga machte eine Pause und ließ einen langen, ernsten Blick über unsere Richterbank gleiten.
„Das ist alles, meine Herren, mehr kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich hatte er sich nur schlafend gestellt. Er war allein im Saal, sein Diener übernachtete draußen bei den Pferden. Er hatte die ganze Nacht Zeit, um sein Verbrechen zu begehen und sich dann heimlich davonzumachen. Wie wir sie morgens fanden, ist Euch bekannt. Nur eines noch: Das goldene Kreuz, das sie am Hals trug, ist verschwunden. Wer könnte es haben, wenn nicht der Mörder? Sucht es bei ihm! Und dann fällt Euer Urteil!“
„Erlaubt, edle Frau, dass ich Euch noch eine Frage stelle!“, sagte ich, indem ich rasch aufstand.. „So wie Ihr das Saalhaus verlassen habt, während Herr Siegram schon schlief, so konnte doch auch jeder hinein und durch die unverschlossene Außentür durch den Saal in die Kammer gelangen. Könnte es also nicht ein anderer gewesen sein, der den Mord beging? Jemand vom Hof, vom Dorf oder vom Castell?“
„Das könnte wohl sein“, entgegnete sie. „Nur ist er uns unbekannt und wir haben auch keinen Verdacht. Habt Ihr einen, so bringt uns Beweise. Ich wiederhole: Findet das Kreuz bei ihm!“
Frau Begga trat auf die Seite.
Hrotbert neigte sich uns zu und raunte: „Wollen wir ihn durchsuchen lassen?“
„Wozu?“, erwiderte Odo. „Wir werden nichts finden.“
„Es wäre auch demütigend für einen Edlen vor all diesen Männern.“
„Wenn er sich für unschuldig erklärt, mag er es dort in der Kirche auf das Evangelium schwören“, schlug ich vor.
„Fahren wir also fort“, sagte Hrotbert und rief: „Sprecht Ihr nun, Herr Siegram! Verteidigt Euch!“
Einen Augenblick sah der Sänger zum Himmel empor, um sich zu sammeln.
„Ihr Herren“, begann er mit leiser Stimme, „erlaubt, Euch erst dies zu sagen: Ist der Sänger überall zu Hause, so ist er doch gleichzeitig überall ein Fremder. Rastlos zieht er umher, nie kommt er endgültig an. Angewiesen ist er auf Gastlichkeit und Vertrauen, das man ihm gewähren, aber auch verweigern kann. Für seine Kunst wird er geehrt und bewundert, seiner Unrast wegen wird er beargwöhnt. Er kommt aus der Ferne und er zieht in die Ferne, man kann ihn nicht festhalten. Man muss ihn schon eines Verbrechens bezichtigen, um das zu tun!“
Er sah Frau Begga voll an, die, wie mir schien, leicht errötete.
Der Sänger führte uns nun in seine Heimat, das Königreich Wessex. Fing mit den Heldentaten seiner Vorfahren an. Schilderte die Nöte des siebenten Sohnes eines Edlen, der nur die Wahl zwischen dem Kloster und unsteter Wanderschaft hatte. Er wählte das Letztere: Länder, Städte, Meere, Herzöge, Grafen, Bischöfe. Aber auch staubige Straßen, dumpfe Herbergen, versinkende Fähren, brennende Brücken. Sechsmal war er überfallen und beraubt worden. Da hatte er es aufgegeben, eine teure Gefolgschaft zu unterhalten. Er hatte seine Besitztümer in die Hände eines vertrauenswürdigen Freundes gelegt und war nur noch mit dem Jungen gereist, Gott und seinem Glück vertrauend. Ja, auch der König habe sich seines Gesangs erfreut, sagte er stolz, wie dessen hier anwesende Abgesandte bestätigen könnten. Und nun sei er unterwegs nach Thüringen.
Nachdem er dies alles ausgeführt hatte, wandte er sich seiner Kunst zu. Schon in seiner Kindheit habe er voller Inbrunst den Barden gelauscht, welche, von Norden kommend, seine angelsächsische Heimat durchzogen. Dann habe er seine eigene Begabung entdeckt und …
An dieser Stelle unterbrach ihn Graf Hrotbert ungeduldig. „Sprecht nun zur Sache, Herr Siegram! Ihr braucht nicht Euern Gesang zu verteidigen. Wie ich höre, hat niemand etwas an ihm auszusetzen. Aber Ihr seid eines Mordes angeklagt!“
Der Sänger schluckte die Zurechtweisung. Er lächelte sogar, um Entschuldigung bittend, und schwieg einen Augenblick. Dann begann er mit seiner Darstellung der Ereignisse.
Wie die Zentgräfin seine Ankunft beschrieben hatte, entsprach nach seinen Worten der Wahrheit. Der dringende Wunsch nach einem Bad, der Hinweis eines Bauern, es gebe hier einen Bach oder Fluss, allerdings hinter Zäunen und Toren, habe ihn auf den Salhof geführt. Frau Begga habe ihn begrüßt und ihn gebeten, über sich Auskunft zu geben. Zunächst habe er nicht den Eindruck gehabt, sagte Siegram, dass sie über seine Ankunft besonders erfreut war. Doch als er sagte, er sei ein Skop, da sei sie wie umgewandelt gewesen. Sie habe Rufe der Überraschung ausgestoßen und überschwänglich Freude bekundet. Seltsam seien ihre Aussprüche „An so einem Tag!“ und „Ein Abgesandter des Himmels!“ gewesen. Jedenfalls sei ihm noch niemals durch eine Gutsherrin in einem abgelegenen Tal ein solcher Empfang bereitet worden. Frau Begga habe gleich Wein kommen lassen und ihn mit Fragen nach dem Woher und Wohin bestürmt. Dann seien sie auf jene neustrischen Comitate zu sprechen gekommen, wo auch sie einen Teil ihres Lebens verbracht hatte. Bald habe sich herausgestellt, was ihr Verhalten einigermaßen erkläre: dass sie einst die Frau eines Sängers gewesen war, bevor sie Umstände, die sie nicht näher bezeichnen wollte, in ihre jetzige Lage gebracht hatten. Mehrmals habe sie ihre Genugtuung darüber geäußert, dass ihr jetziger Gatte, der Zentgraf, abwesend war. Und dann habe sie ihm vorgeschlagen, die Nacht auf dem Salhof zu verbringen.
„Wollt Ihr uns damit sagen, Herr Siegram“, warf Hrotbert ein, „dass Euch die Zentgräfin diesen Vorschlag machte, weil sie Gefallen an Euch fand? Weil sie vielleicht bestimmte Absichten hatte?“
Frau Begga warf ihm einen empörten Blick zu.
„Das ist beleidigend, Herr Graf! Das wagt Ihr nur, weil mein Gemahl nicht anwesend ist!“
„Antwortet auf meine Frage, Herr Siegram!“, sagte Hrotbert, ohne den Einwurf zu beachten.
„Ich hatte wahrhaftig diesen Eindruck“, sagte der Sänger und blickte dabei auf Odo, der ihm mit einer ganz leichten Kopfbewegung zustimmte. „Die edle Frau schien in meiner Ankunft eine Art Wiederkehr ihres ersten Gemahls zu sehen, der nicht mehr am Leben ist und den sie offenbar sehr geliebt hatte. Da ich mich ganz außerstande sah, so hohen Erwartungen zu genügen, hielt ich es für besser, die Einladung auszuschlagen. Überraschend sprang dann aber die andere Dame herbei, die junge Frau Chrodelind.“
„Sprang?“, rief Hrotbert dazwischen. „Wir haben gerade gehört, dass sie leidend war und sich kaum auf den Beinen halten konnte.“
„Sie sprang, sie hüpfte, sie tanzte!“, sagte Siegram. „Sie drehte sich wie ein Wirbelwind. Und leidend? Sie war rosig und frisch. Und wie sie lachte! Sie begann gleich zu plaudern, als wären wir alte Bekannte. Sie scherzte über die Schüchternheit meines jungen Begleiters. Ich gestehe, ich fühlte mich von ihrer Anmut berührt, vom Zauber ihrer zarten Erscheinung, von dieser mitreißenden Lebhaftigkeit, die zu einer verheirateten Frau nicht passte, sondern eher mädchenhaft, ja knabenhaft wirkte …“
Abermals sah er Odo an, ein wenig erschrocken, wie mir schien. Ich sah gerade noch, dass Odo verstohlen den Zeigefinger hob und ihm drohte.
Der Sänger bremste seinen poetischen Schwung und fuhr fort: „Ich will damit nur erklären, meine Herren, warum es Frau Chrodelind gelang, mich doch noch zum Bleiben zu überreden. Die junge Edeldame schien mir auch klug zu sein, ihre Scherze hatten Bedeutung, man konnte darüber nachdenken. Ich bin ein später Hellene, ich liebe das heitere Gespräch im Kreise geistvoller Menschen. Wie rar sind solche Gelegenheiten bei uns im Frankenland! Doch ich schweife wohl ab …“
In der Tat wussten weder der Graf noch seine Zuhörerschaft die Bedürfnisse eines späten Hellenen zu würdigen. Auch Odo seufzte und brummte: „Wenn er so weitermacht, verdirbt er noch alles!“
Doch die Besorgnis war unnötig. Man konnte den Mienen der meisten Zuschauer eine gewisse Genugtuung darüber ansehen, dass gerade die ungeliebte Partei der Lüge überführt worden war.
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