Ohne Rücksicht auf Dreck und Gestank tastete er im Dunkel der Kammer herum und erschien freudestrahlend mit einem Packen Zündstäbchen. In aller Seelenruhe machte er die Öllampe an. »Wie schön, dass man uns Blinden die Möglichkeit gibt, die Dunkelheit zu erhellen und das Licht der Aufklärung leuchten zu lassen …«, sagte er, unterbrach sich dann jedoch selbst. »Ich denke, diese Formulierung ist missglückt. Mein Deutsch ist doch nicht so gut, wie ich manchmal wünschte. Ich wollte sagen: Es ist eine gut eingerichtete Welt, in der diejenigen, die für Rätsel sorgen, auch die Mittel bereitstellen, um sie aufzuklären. Aber hat nicht schon der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz die These aufgestellt, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben? Ich möchte ihm darin nicht unbedingt widersprechen. Zumal wir ja wohl in der einzigen aller möglichen Welten leben. Eigentlich ist das eine Banalität. Allerdings wäre diese Welt noch besser, wenn alle die Ansicht dieses Kollegen teilten. Was aber nicht jeder tut, und Leipniz doch schon allein deshalb nicht recht haben kann, oder?«
Quantz schwirrte der Kopf. Plötzliche Erkenntnis schien in La Mettrie stets den Drang auszulösen, Theorien aufzustellen und diese gleich mitzuteilen. Entweder einem Gegenüber oder dem Papier, auf das er dann in rasender Eile seine Bücher schrieb.
Der Franzose grinste über das ganze Gesicht. Der Ausdruck verstärkte sich noch, als es ihm endlich gelang, die Lampe anzuzünden. »Ein Paradoxon, lieber Herr Quantz. Und dazu ein schönes. Sie sollten es sich merken. Man kann mit so etwas manchmal gehörig punkten. Vor allem bei Frauen. Aber nur wenn sie – wie es auf Deutsch so schön heißt – helle im Kopf sind. Was sie wiederum umso anziehender macht.«
Er nahm die hell brennende Öllampe und leuchtete in den Verschlag.
Quantz hatte sich inzwischen an den Gestank gewöhnt, doch ein Würgereiz ergriff ihn, als der Franzose zwischen den Unrat griff, der nun auf dem Boden der Kammer sichtbar wurde, und ihn beiseiteräumte.
»Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass es sich um Staffage handelt«, sagte La Mettrie. »Eine Täuschung. Der Schmutz wurde absichtlich hergebracht, um Neugierige abzuschrecken. Prüfen wir also, wo am meisten Zeug aufgehäuft wurde. … Aha …«
Es rumpelte und knirschte in der Kammer. Altes Holz rutschte zur Seite. »Schauen Sie.« La Mettrie beleuchtete den frisch freigelegten Untergrund. »Sie müssen schon etwas näher herankommen. Lassen Sie sich von dem Gestank nicht stören. Man gewöhnt sich ohnehin daran. Die Nase nimmt Gerüche, die sie ständig umgeben, nach einer gewissen Zeit nicht mehr wahr. Wussten Sie das? Das wirft doch ein ganz anderes Licht auf Menschen, die sich ungern waschen und deshalb die ganze Gegend verpesten. Mir liegt es ja fern, unseren Herrn König zu kritisieren, aber er gehört ebenfalls zu den … Aha, was haben wir denn hier?« La Mettrie hatte die Lampe abgestellt und etwas am Boden der Kammer ergriffen. Es war ein Eisenring. Er zog daran, und sofort hob sich eine Platte in die Höhe. Sie war aus Holz und schien nicht sehr schwer zu sein. Und auch sie machte nicht das geringste Geräusch. »Schauen Sie sich das an, lieber Maître de Musique.«
Quantz war näher gekommen. Auch er stützte sich auf die Knie und nahm keine Rücksicht auf den Schmutz, auf den Geruch noch weniger. Er spürte, wie ihn Aufregung ergriff. La Mettrie hatte etwas entdeckt! Und der Gestank hatte sich tatsächlich etwas verflüchtigt. Und das lag weniger daran, dass er sich daran gewöhnt hatte, sondern an der kalten, feuchten Luft, die dem Loch entstieg. Und mit ihr das faulige Aroma der Havel.
Der Franzose hielt die Lampe direkt über die Öffnung. »Hat uns nicht der Herr Professor verdeutlicht, welche Erkenntnisse unter der Erde liegen? Nun folgt auf die Theorie das Faktum. So soll es sein. Die Welt ist doch perfekter, als ich dachte …«
Im Lichtschein wurde eine metallene Leiter sichtbar, die an einer Wand nach unten führte. Steil wie im Inneren eines Brunnens ging es in die Tiefe.
»Wenn das mal kein guter Fluchtweg für Grenadiere ist«, sagte der Kammerherr. »Wenn man nicht über die Mauer gelangen kann, geht es eben unten durch. Eigentlich sehr einfach.«
Sie erhoben sich und klopften den Schmutz von ihren Röcken. Quantz spürte, wie sich seine Aufregung verlor. Eine große Ruhe überkam ihn. Sie hatten etwas gefunden, was den König beeindrucken würde. Es gab eine Möglichkeit für seine Rettung!
»Es ist besser«, sagte La Mettrie, »wenn wir mit den Beinen zuerst in das Loch steigen.«
Quantz schüttelte den Kopf. »Sie wollen da runter? Das ist nicht Ihr Ernst! Reicht es denn nicht, dass wir den Fluchtweg gefunden haben?«
»Ich bin sicher, da unten warten noch viel mehr Antworten auf unsere Fragen. Und woher wissen Sie, ob es wirklich ein Fluchtweg ist?« La Mettrie hielt die Lampe über das Loch. »Möchten Sie vorgehen, oder soll ich?«
Quantz sah La Mettrie zu, wie er seinen Hut abnahm und Anstalten traf, in den Schacht zu klettern.
Sicher – der Franzose hatte recht. Ein Kellereinstieg war immer noch kein Beweis. Es kam darauf an, wo er hinführte. Nur die ganze Wahrheit war die Wahrheit.
La Mettrie bewegte sich rückwärts in das enge Gelass. Dann stieg er ein paar Sprossen die Leiter hinunter. Als nur noch sein Oberkörper herausschaute, sagte er: »Wären Sie so freundlich, mir den Hut herunterzuwerfen, wenn ich es Ihnen sage? Er ist in diesem Schacht sehr hinderlich.« Damit verschwand er.
Quantz hockte am Eingang der Kammer und sah ihm nach. Von oben war La Mettries runder Kopf zu sehen, der im Lichtschein immer tiefer wanderte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Franzose das Gesicht wieder nach oben wandte. »Jetzt, Monsieur. Mein Hut.« Seine Stimme wirkte dumpf in dem engen Schacht.
»Wollen wir die Hüte nicht hier oben lassen?«, fragte Quantz. »Wir sind doch sicher gleich zurück.«
»Es ist besser, wenn es keine Spuren gibt. Vergessen Sie auch nicht, die Tür zur Kammer und die Klappe über sich zu schließen.«
Quantz musste kämpfen, bis er seinen langen Körper in den schmalen Abgang gequetscht hatte. Sein Rücken schabte an der rauen Wand, als er sich Sprosse für Sprosse abwärtsbewegte. Immer wieder stieß er sich die Ellbogen an.
Der Schacht endete auf steinigem Grund. Gegenüber der Seite, wo die Leiter angebracht war, befand sich ein Durchgang, der oben von einem runden Bogen abgeschlossen war. Dahinter flackerte La Mettries Lampe. Quantz folgte ihrem Schein.
»Schauen Sie sich das an«, sagte der Franzose, der die Lampe über seinen Kopf erhoben hatte. »Hätten Sie das für möglich gehalten?«
Vor ihnen befand sich eine massive Holztür, die offen stand und den Blick in einen kleinen Raum gewährte, der wie eine Wächterstube aussah. Darin standen eine Bank und ein Tisch, an der rohen Mauer ein Regal. Quantz erkannte Brotkrümel und Scherben eines zerbrochenen Krugs. Neben einigen Stufen, die in den Raum führten, erhob sich eine kniehohe Mauer, die etwas einzugrenzen schien. Sie gingen heran und blickten in ein dunkles Wasserloch.
»Wahrscheinlich ein alter Brunnen«, sagte La Mettrie. »Interessant ist auch dies hier.« Er beleuchtete ein Bündel von getrockneten Schilfrohren, das in der Ecke stand – nur ein Stück entfernt von einer Tür aus rostigen Eisenstäben. »Schilf neben dem Eingang zu einem Kerker«, stellte der Franzose fest. »Wozu das wohl nützen soll?«
Quantz sah zu der Holztür zurück, durch die sie gekommen waren, und plötzlich erfasste ihn Beklemmung. »Wäre es nicht besser, wieder zu verschwinden, Monsieur? Ich habe den Eindruck, es ist gefährlich hier.«
La Mettrie hatte gerade die Lampe abgestellt, einen der Stäbe aus dem Bündel genommen und hielt ihn jetzt wie ein Fernrohr vor sein Auge. »Ruhig Blut. Es bleibt uns doch nichts anderes übrig, lieber Maître de Musique. Wir müssen wohl oder übel alle Geheimnisse dieses bemerkenswerten Kellers lüften, sonst können wir nichts beweisen. Dass von diesem Haus Verrat gegen den König ausgeht und von hier aus den Grenadieren zur Flucht verholfen wurde, liegt nahe. Allerdings haben wir den Vorwurf Ihrer angeblichen Beteiligung an dem Komplott damit noch lange nicht aus der Welt geschafft. Und wie die Soldaten letztlich aus der Stadt gekommen sind, wissen wir auch noch nicht …«
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