Das Andante begann. Über den weichen Streichertupfern flossen die gesanglichen Melodien dahin, liefen parallel, zerfielen in verschiedene Phrasen, die wirkten, als unterhielten sich die beiden Instrumente, als führte der König mit seinem Musikmeister einen Dialog. Beide stellten gemeinsam ein Thema vor, und erst gab der eine seine Meinung dazu ab, dann der andere. Schließlich fanden sie in einer neuen Tonart zusammen, und neue Aspekte öffneten sich wie die wechselnden Aussichten auf eine Landschaft.
Über allem herrschte die einvernehmliche Harmonie wie auf den Bildern, die Quantz so liebte und von denen einige in der Galerie des Königs hingen. Bilder, wie er sie immer wieder träumte: von einem harmonischen Arkadien, von einem Musiker-Paradies, in dem nur die Schönheit und edle Dinge anzutreffen waren.
Quantz fiel in eine der dialogartigen Stellen ein und gab dem König musikalisch sein respektvolles Widerwort. Kaum hatte Friedrich nach anderthalb Takten Pause seinen Einsatz gefunden und den Fluss der Melodie einen Ton höhergeschraubt, da glitt Quantz’ Blick über das Notenpult hinweg ins Publikum. Genau zwischen den beiden Kerzenflammen, die an seinem Pult angebracht waren, um die Noten zu beleuchten, erkannte er in der hinteren Reihe das Gesicht von La Mettrie.
Sein roter Rock war selbst in der bunten Hofgesellschaft mehr als auffällig, fast schon geckenhaft übertrieben. Neben ihm saß d’Argens, der sich in dunkles Grün gekleidet hatte und damit den Modevorschriften des preußischen Hofes besser entsprach. D’Argens spielte Interesse vor, war aber wahrscheinlich gelangweilt. La Mettrie dagegen grinste wie ein Spaßmacher auf dem Jahrmarkt, der die Leute dazu bringen wollte, über ihn zu lachen. Dabei beachtete ihn niemand.
Plötzlich hatte Quantz den Eindruck, dass La Mettrie nicht zu ihm hinsah, sondern zu jemandem, der sich direkt neben ihm befand. La Mettrie beobachtete Bach, der gerade nichts zu spielen hatte, denn auch das Cembalo pausierte im zweiten Satz. Allein die Violinen und Violen begleiteten die Flöten. Wie Herzschläge pochten ihre Noten unter den langsam dahingleitenden Flötengirlanden.
Bach und La Mettrie hatten Kontakt … Aber warum? Und wozu?
Die Szene vor dem Konzert, der geheime Zettel in Bachs Ärmelaufschlag. Es musste sich um eine Nachricht handeln, die von Musiker zu Musiker ging. Die alle betraf, nur Quantz nicht. Es musste eine Intrige der Musiker dahinterstecken!
Er konzentrierte sich auf das Stück, das ihm viel länger vorkam als sonst.
Das Orchester stand in seinem Rücken. Auf einmal erfüllte ihn das Gefühl, von den Blicken der Musiker hinter ihm erdolcht zu werden. Es war ihm, als sei er zwischen dem Publikum, der bunten, aber undurchdringlichen Wand der Zuhörer, und den Mitgliedern der Hofkapelle gefangen. Die regelmäßigen Streichertupfer wirkten bedrohlich.
Er und der König hatten in trauter Terzenseligkeit eine Phrase beendet, und nun legte Friedrich zwei Takte einer neuen dialogisierenden Passage vor. Quantz setzte ein – und der plötzliche Misston machte ihm unmissverständlich klar, dass er sich in der Zeile geirrt hatte.
Für einen schrecklichen Moment setzte sein eigenes Herz aus, während der Takt der Streicher weiterlief, unbarmherzig und drängend. Verzweifelt suchte er den Anschluss auf dem Notenblatt, doch er fand nicht zurück. Die handgeschriebenen Zeichen – Notenschlüssel, Notenköpfe, Hälse, Balken, Taktstriche und Pausen – verschwammen ihm vor den Augen. Quantz reagierte instinktiv, indem er die Flöte absetzte, um nicht noch mehr zu verderben. So pochten die Orchestertöne eine Weile allein dahin, ein riesiges musikalisches Loch von beängstigender Leere entstand, bevor der König seinen Einsatz spielte und das Ende des Andantes mit einem ausgedehnten Triller ansteuerte, sich zum Orchester umdrehte und die Musiker zu den mächtigen Forteakkorden führte, die zum Finale überleiteten – einem heiteren, tänzerischen Ausklang, in dem auch die Oboen und Hörner fröhlich dazwischenlärmten.
Quantz blies seinen Part mit einigermaßen wiedergewonnener Sicherheit. Seine Finger und seine Lippen funktionierten, aber sein übriger Körper stand wie gelähmt.
Als der Applaus einsetzte, nahm ihn der König allein entgegen. Quantz verließ mit den Hornisten und Oboisten den Saal. Das nächste Stück war wieder nur den Streichern mit begleitendem Cembalo vorbehalten.
An der Tür blieb er stehen und sah sich um. Üblich war, dass der König ihm in diesem Moment mitteilte, welche Aufgaben heute noch auf ihn zukamen. Welche Musik noch gewünscht war und ob er ein weiteres Flötenkonzert zu spielen habe. Die Hofgesellschaft hatte ihre Gespräche wieder aufgenommen. Verzweifelt suchte Quantz den Blickkontakt zu Friedrich, der sich gerade zu Prinzessin Amalia hinüberbeugte. Die beiden wechselten ein paar Worte. Die Prinzessin wirkte über irgendetwas belustigt. Endlose Momente vergingen, bis Seine Majestät aufsah. Er war offensichtlich erstaunt, seinen Flötenmeister noch im Raum zu sehen.
Friedrich nickte ihm zu, und Quantz erfüllte Erleichterung. Umso mehr erschrak er, als Seine Majestät mit der rechten Hand unter der Tischkante eine dezente Bewegung machte, als wolle er eine Fliege verscheuchen. Er wedelte mehrmals mit den ausgestreckten Fingern. Dabei sah er Quantz ernst an.
Die Botschaft war unmissverständlich. Der königliche Flötist und Kammermusiker hatte sich zurückzuziehen. Er wurde nicht mehr gebraucht.
Wie betäubt drehte Quantz sich zur Tür. Die Orchestermusiker hatten bemerkt, was vorgefallen war. Manche, auch Bach, der nach wie vor am Cembalo saß, lächelten vor sich hin.
Draußen strebten die anderen Bläser weit entfernt mit schnellen Schritten den Räumen der Musiker zu. Quantz blieb zurück. Nur langsam ließ die Schwere in seinen Beinen nach.
***
Flackernde Flammen beleuchteten die Notenblätter, an denen Andreas emsig schrieb.
Als man ihm erklärt hatte, worum es ging, hatte das in seinem Kopf einen Mechanismus in Gang gesetzt. Kaum hatte er angefangen zu schreiben, war die Welt um ihn herum versunken.
Viele Seiten hatte er gefüllt, da erst wurde ihm bewusst, dass die Kerzen fast vollständig heruntergebrannt waren. Er legte die Feder weg und schob das Papier zusammen. Ein Ziehen meldete sich in seinem Magen. Es war Stunden her, seit er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Er stand auf, wobei der Schemel ein hässliches Quietschen auf dem Steinboden verursachte.
Durch die Schläge und die Angst hatte Andreas so unter Schock gestanden, dass er sofort mit der Arbeit begonnen hatte. Erst jetzt kam er auf die Idee, sein Gefängnis zu untersuchen.
Er wandte sich der Tür zu, durch die er den engen Raum betreten hatte. Dort befand sich der schmale Kerker, wo sie ihn angekettet hatten. Andreas leuchtete mit dem Kerzenstummel hinein. Da lag etwas schmutziges Stroh, die Ketten führten zu Eisenringen in der Wand.
Die Erinnerung an den Moment, in dem er zu sich gekommen war, überwältigte ihn, und er wich zurück. Gegen den Kerker war der Raum mit dem Arbeitstisch geradezu gemütlich. Auf dessen anderer Seite gab es einen sehr engen Durchgang. Knarrende Geräusche kamen von dort. Andreas spürte eine wachsende Beklommenheit, als er einen schmalen Gang erreichte. Die Kerze beleuchtete nichts als rohe Steine. Überall schimmerte es feucht.
Nach wenigen Schritten stand er an einer rostigen Gittertür. Immerhin waren die Stäbe so weit voneinander entfernt, dass er eine Hand mit dem Licht hindurchstecken konnte. Auf einer Holzbank lag der dicke, brutale Mann, der ihn geschlagen hatte, und schnarchte. Eine Hand hing herab. Sie hielt einen Eisenring, an dem ein Schlüssel befestigt war.
Hinter dem Raum mit dem schlafenden Wächter ging es sicher in die Freiheit. Andreas packte die Stäbe. Irgendetwas in ihm hoffte, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Doch sie gab nicht nach. Er war gefangen.
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