Er konnte nichts sehen. Im Keller war es dunkel wie in einer Gruft.
»Matthew?«, kam Lasseurs Stimme aus der Finsternis.
»Bin noch da«, sagte Hawkwood.
Er spürte eine Hand auf seinem Arm. »Bist du verletzt?«
»Ich werde es überleben.«
»Ich sollte Charbonneau zitieren. Was sagte der gleich wieder? ›Der Herr liebt Optimisten.‹«
Hawkwood ignorierte die Schmerzen in Bauch und Oberschenkel und stand auf, er hörte, wie Lasseur das Gleiche tat. Er streckte die Hand aus und fasste Lasseur beim Ärmel. »Die Tür ist auf unserer linken Seite, stimmt’s?«
Lasseur dachte einen Augenblick nach. »Ja.«
»Vergewissern wir uns«, sagte Hawkwood. »Gehen wir rückwärts, bis wir die Wand erreichen.«
Sie gingen fünf Schritte, ehe ihre Rücken die kalte Mauer berührten.
»Und was jetzt?«, fragte Lasseur neugierig.
Hawkwood lehnte sich gegen die Wand und versuchte, sich zu orientieren. Er versuchte, sich zu erinnern, was er in dem Keller gesehen hatte, ehe die Tür zufiel und es dunkel wurde. Crokers Bedürfnis, ihn zu quälen, hatte ihm wertvolle Sekunden geschenkt, in denen er einen Eindruck von seiner Umgebung gewinnen konnte, von der Größe des Raumes und von einigen der Gegenstände, die sich hier befanden.
Das Wichtigste waren die Lage der Tür und ein Bord auf der linken Seite, wo er einen Kerzenstumpf gesehen hatte und daneben etwas, das wie ein Feuerzeug aussah.
»Bleib, wo du bist«, sagte Hawkwood.
Mit ausgestreckten Händen humpelte er in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Dabei musste er an die Soldaten denken, die im Krieg blind geworden waren und jetzt an den Straßenecken betteln mussten, für immer von Dunkelheit umgeben. Ich möchte lieber tot sein als blind , dachte er.
Als seine Hände endlich die Wand berührten, hielt er inne. Er wusste, dass er in der Dunkelheit vielleicht etwas desorientiert war und überlegte, ob er nach rechts oder nach links gehen sollte. Er entschied sich für links. Das Bord war niedrig angebracht, wusste er, etwa in Taillenhöhe. Vorsichtig tastete er sich an der Wand entlang. Nach einigen Schritten fühlte er Holz, er tastete weiter und hatte Metall in der Hand. Es war das Feuerzeug. Ungeschickt befühlte er den Deckel der Büchse, nahm ihn ab und untersuchte den Inhalt. Ja! Er atmete erleichtert auf, als er Feuerstein und Stahl fand, und etwas, das sich wie Distelwolle anfühlte. Er hörte, wie Lasseur einen Laut der Freude ausstieß, als er auf den Feuerstein schlug. Nicht nur enthielt die Büchse Zunder, sondern auf dem Bord daneben lagen auch noch zwei kurze Wachsstöcke neben dem Kerzenstummel.
Ein paar Sekunden später hatten sie Licht.
Hawkwood löschte den Zunder, steckte die Utensilien zum Feuerschlagen wieder in die Büchse und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. »Wir brauchen einen Weg nach draußen oder etwas, womit wir kämpfen können. Am besten beides.«
»Du hast doch noch dein Messer?«, erinnerte Lasseur sich.
»Das wird nicht ausreichen«, sagte Hawkwood. Er sah Lasseur an. »Warum hast du nicht versucht, mich zu erschießen. Du hättest die Chance gehabt, dich zu retten.«
Lasseur, vom Kerzenlicht beleuchtet und mit dieser Frage konfrontiert, schien überrascht. »Du schuldest mir noch viertausend Francs, hast du das vergessen? Ich habe nur meine Interessen gewahrt.«
»Und wer ist jetzt der Optimist?«, sagte Hawkwood und verzog schmerzhaft das Gesicht. Die Geste blieb Lasseur nicht verborgen. Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, du sagtest, du bist nicht verletzt.«
»Nein, ich habe gesagt, ich werde es überleben. Es tut aber höllisch weh.«
»Du kannst es Croker nicht verdenken. Du hast seinen Freund umgebracht.«
»Vielleicht bringe ich Croker auch noch um«, knurrte Hawkwood. Er schwieg. Dann sagte er: »Warum hast du es getan? Was war der wirkliche Grund?«
Lasseur lächelte, dann wurde sein Gesicht ernst. »Ich sagte doch, du bist ein Ehrenmann. Ich sagte auch, um dich sei etwas Dunkles, Ungewisses. Ich halte beide Feststellungen noch immer für richtig. Das hast du bewiesen, als du an meiner Seite um den Jungen gekämpft hast und als du am Strand mein Leben gerettet hast. Wegen dieser beiden Vorfälle allein werde ich dich immer als meinen Freund betrachten. Und meine ganz allgemeine Regel ist, dass ich meine Freunde nicht umbringe. War das wahr, was Morgan gesagt hat? Du bist eigentlich Polizist?«
Hawkwood nickte.
»Da hast du mir einen ganz schönen Bären aufgebunden.«
»Aber ich habe dich nie für dumm gehalten«, sagte Hawkwood. »Das ist ein gewaltiger Unterschied.«
»Ja«, sagte Lasseur. Er sah nachdenklich aus. »Wahrscheinlich hast du Recht.«
Im Kerzenlicht bestätigte es sich: Der Keller hatte nur die eine Tür. Es gab nichts, was man als Waffe hätte benutzen können. Ein Dutzend Half-Anker Fässer waren an einer Wand gestapelt. Daneben lagen sechs größere Fässer. Neben den großen Fässern standen mehrere Korbflaschen, deren Inhalt, soweit es sich im trüben Kerzenlicht feststellen ließ, eine farbige Flüssigkeit war. Neben den Korbflaschen standen Kästen mit Dutzenden von leeren Flaschen. Der Geruch genügte, um ihnen zu verraten, was in den Fässern war. Hawkwood hob eines der kleinen Fässchen an, es war voll. Er vermutete, dass die sechs Fässer, die Asa Higgs von Jess Flynns Farm mitgebracht hatte, auch darunter waren, obwohl man es nicht genau sagen konnte, da sie alle gleich aussahen. Morgan nahm schon ein großes Risiko auf sich, wenn er sie auf seinem Grundstück lagerte, dachte Hawkwood, wenn es tatsächlich mal eine Razzia durch den Zoll geben sollte. Doch das schien unwahrscheinlich, wenn man die Wachen, sowie die vielen offiziellen Hüter des Gesetzes bedachte, die Morgan ebenfalls bezahlte.
An jeder der großen Tonnen war ein Zapfhahn. Hawkwood hielt die Hand unter einen davon und drehte auf. Er ließ etwas von der klaren Flüssigkeit laufen und kostete. Er hatte es für Gin gehalten, aber es war offenbar klares Wasser.
»Wenigstens werden wir nicht verdursten«, sagte Lasseur.
»Kommt drauf an, von welchem Fass du trinkst«, sagte Hawkwood. »Wenn du dir das falsche aussuchst, könntest du eher an Alkoholvergiftung sterben.«
»Was?« Lasseur zog die Augenbrauen hoch.
»Nicht alles, was hier an Brandy hergebracht wird, ist trinkbar. Vieles davon hat über siebzig Prozent, das müssen sie mit Wasser verdünnen. Und manches ist völlig farblos, also setzen sie Karamellsirup hinzu, um es dunkler zu machen. Ich vermute, der ist dort drin.« Hawkwood deutete auf die Korbflaschen und die Fässer. »Wenn du das Zeug unverdünnt trinkst, bringt es dich um.«
»Vielleicht gibt’s schlimmere Todesarten«, sagte Lasseur. Sehnsüchtig sah er die Fässer an. Dann wanderte sein Blick zu einer großen Teekiste. »Was glaubst du, was da drin ist?«
Mehr Schmuggelware, vermutete Hawkwood, aber wahrscheinlich kein Tee, da der Zoll auf Tee schon seit vielen Jahren stark gesunken war. Es war eher möglich, dass es sich um Spitzen, Handschuhe oder Seide handelte. Die Kiste war nicht verschlossen. Er öffnete die Bügel und hob den Deckel an.
Nichts Aufregendes; Stoffbündel, aber weder Spitzen noch Seide. Hawkwood griff hinein, um zu sehen, ob darunter etwas versteckt war, als ihm der Stoff bekannt vorkam. Er hielt die Kerze näher, dann stellte er sie hin und nahm eines der Bündel ganz heraus. Als er es aufrollte, hielt er eine Jacke und eine Hose in der Hand. Die Jacke war dunkelblau, Kragen und Manschetten waren rot. Die Hose war ein schmutziges Weiß.
Ein Laut der Überraschung kam von Lasseur. »Das ist ja eine französische Infanterieuniform.«
Hawkwood nickte. »Kompanie der Füsiliere.«
»Du kennst dich mit französischen Uniformen aus?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Hawkwood.
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