Der Stallbursche Thaddäus war in der ersten Box, wo er eine braune Stute trockenrieb. Als die Männer mit McTurks Leiche hereinkamen, hielt er erschrocken inne.
Morgan deutete auf die Leiche. »Hilf Jack, ihn runter zu heben.«
Hawkwood und Lasseur banden ihre Pferde fest, während Croker und der Stallbursche die Stricke lösten und die Leiche aufs Stroh legten. Im Laternenschein sah das Gesicht des Stallburschen gelblich und zerfurcht aus.
»Sieht aus, als hätten Sie Glück gehabt«, sagte Morgan, als Hawkwood und Lasseur ihre Sättel auf dem Balken über der Box verstauten.
»McTurk haben wir das jedenfalls nicht zu verdanken«, sagte Hawkwood. »Der hat einen Lärm gemacht, der Tote aufgeweckt hätte.«
»Tatsächlich?«, sagte Morgan und trat zurück. »Das war aber nicht, was ich gehört habe. Ich habe gehört, er sei sehr leise gewesen, und dass der arme Kerl gar nichts mehr mitbekommen hat. Wenn du soweit bist, Cephus.«
Pepper trat aus der Dunkelheit, eine Pistole in der rechten Hand. Er war nicht allein. Hinter ihm trat eine schlanke Gestalt vor. Hawkwood wusste, dass seine Schwierigkeiten erst jetzt richtig anfingen.
»Sie haben Esther bereits kennengelernt«, sagte Morgan.
Sie hatte ihr Kleid ausgezogen und mit einer kurzen Jacke und einer Reithose vertauscht. Ihr rotes Haar war im Nacken von einem Band zusammengehalten. Ihre Augen funkelten hasserfüllt. »Er war es«, sagte sie und deutete auf Hawkwood. Ihre Stimme war eiskalt.
Hawkwood sah sich nach einem Fluchtweg um. Der einzige Weg nach draußen war durch die Tür, und das war keine Option, denn die beiden Männer, die sich hinter der Tür versteckt hatten, traten jetzt ins Licht. Auch sie hatten Pistolen, außerdem hatte jeder von ihnen einen Schlagstock am Gürtel. Einer von ihnen war Del.
»Eine Bewegung, und Sie sind tot«, sagte Morgan. »Sie auch, Captain Lasseur.«
Hawkwood stand still, etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Lasseur hob die Hände und sah sich um. »Was ist denn hier los?«
Croker stand auf, auch er war völlig verwirrt. »Was zum Teufel geht hier vor?«
»Wir sind hinters Licht geführt worden, Jack«, sagte Morgan. »Wir haben einen neuen Fuchs im Hühnerstall.« Er sah Lasseur an. »Vielleicht sogar zwei.«
»Was?«
»Es sieht aus, als ob unser Captain Hawkwood etwas sparsam mit der Wahrheit umgegangen ist. Wie sich’s herausstellt, ist er gar kein geflüchteter Gefangener. Vielleicht ist er nicht mal ein Captain. Und ein Amerikaner ist er erst recht nicht.«
»Wovon redest du?«
»Er ist ein Gesetzeshüter, Jack, der uns ausspionieren soll. Und er heißt auch nicht Hooper, sondern Hawkwood. Und laut Esther hier ist er ein Sonderermittler, der für - was war es gleich wieder - für Bow Street arbeitet? Du weißt doch, was das heißt? Ich vermute, wir haben uns hier einen verfluchten Runner eingefangen!«
»Um Gotteswillen!« Croker zeigte die Zähne und griff instinktiv nach seiner Pistole.
»Nein!«, sagte Morgan scharf. »Nicht hier. Nehmt ihnen die Waffen ab.«
»Er hat Pat umgebracht«, sagte das Mädchen, ihr schmales Gesicht wirkte im Laternenlicht kantig. »Hat ihn kaltblütig erschossen, das mörderische Schwein!«
»Und deshalb nehmen wir ihnen ja die Waffen ab«, sagte Morgan geduldig. Er gab den Männern an der Tür ein Zeichen. Zu Hawkwood und Lasseur sagte er: »Pistolen herausnehmen. Mit Daumen und Zeigefinger. Auf den Boden legen. Zurücktreten.«
Die beiden taten, wie ihnen geheißen wurde. Morgans Männer hoben die Waffen auf.
Lasseur starrte das Mädchen an. »Wer ist diese Frau? Was erzählt sie da?«
Morgan tat überrascht. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Esther, das ist Captain Lasseur. Captain, darf ich Ihnen Esther vorstellen. Sie gehört zur Familie, Tochter einer Cousine von mir. Großartiges Mädchen, scharfer Verstand, genau wie ihre Mutter, Gott hab sie selig. Esthers Vater wurde vor fünf Jahren von Zöllnern umgebracht. Ihr Bruder Tom wurde vor zwei Jahren geschnappt, sieben Jahre Verbannung. Übrigens war er drei Monate auf den Hulks, ehe er verschickt wurde. Ist’ne kleine Welt, nicht wahr? Folglich hat sie natürlich für Zöllner und fürs Gesetz überhaupt nicht viel übrig, also hat es auch keinen Zweck, an ihr gutes Herz zu appellieren - sie hat keins. Deshalb haben wir sie auch für Officer Jilks arbeiten lassen. Sie wurde seine Haushälterin, damit sie ihn für uns im Auge behalten konnte. Wie sagt man doch? Halte dich eng an deine Freunde, aber noch enger an deine Feinde? Esther hier hatte einen wahren Schatz an Informationen.«
»Ach ja, und übrigens, Captain - Officer - Hawkwood, oder was zum Teufel Sie sich auch nennen mögen, nur damit Sie’s wissen: Jilks wird auch Ihre Nachricht nicht überbringen. Er hat’s leider nicht ganz geschafft. Dafür hat Esther gesorgt. Sie brauchen sich deshalb aber keine Gewissensbisse zu machen. Ihr Besuch hat sein Ende nicht sonderlich beschleunigt. Seine Tage waren sowieso gezählt.«
Morgan lächelte. »Erinnern Sie sich an unser Gespräch, als Sie mich über den Zwischenfall in Warden fragten und ich sagte, wir hätten immer Verstärkung in Reserve? Tja, das ist unsere Esther. Sie war schon drauf und dran, sich um Jilks zu kümmern, aber dann schien es eine gute Idee, dass Sie und Captain Lasseur ihr die Arbeit abnehmen könnten. Da sieht man mal wieder, wie schwer es ist, heutzutage zuverlässige Hilfskräfte zu finden.
Ich muss sagen, dass Esther es gut gemacht hat. Hat sogar sein Pferd genommen und ist hergekommen, um uns zu warnen. Sie hatte Angst, dass sie Ihnen unterwegs begegnen könnte, aber sie hatte Glück, sie nahm einen anderen Weg. Und war vor Ihnen hier. Das dort ist Jilks’ Stute, die Thaddäus gerade trockenreibt.«
Das Pferdegetrappel, das sie gehört hatten: Es war Esther gewesen, die sie in der Dunkelheit überholt hatte.
»Der Froschfresser ist auch darin verwickelt?«, knurrte Croker mit kaltem Blick auf Lasseur.
Morgan betrachtete Lasseur, auf seinem Gesicht lag ein sarkastisches Grinsen. »Ja, das ist wirklich eine sehr gute Frage.«
»Captain Lasseur hat von allem nichts gewusst«, sagte Hawkwood.
»Tatsächlich?« Morgan sah Lasseur an. »Sie hatten tatsächlich keine Ahnung, dass Ihr Captain Hooper in Wahrheit ein Polizist ist?«
Lasseur starrte Hawkwood an.
»Oh, ich gebe zu, er ist schon etwas Besseres als die anderen«, sagte Morgan aufgeräumt. »Gibt sich als Yankee aus. Und so gut, wie er Französisch spricht - aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er ein verdammter Spion ist. Er hätte uns alle auflaufen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken.«
Hawkwood zuckte die Schultern. »War nichts Persönliches, Captain. Rein geschäftlich.«
Morgan sah nachdenklich aus. »Wenn ich ganz ehrlich bin, verstehe ich nicht, was für ein Motiv Sie haben sollten, ihm zu helfen; und deshalb neige ich dazu, Officer Hawkwood hier zu glauben, wenn er sagt, Sie hatten von allem genausowenig Ahnung wie wir. Das ist wirklich ein Dilemma.«
»Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden«, sagte Pepper. Er sah Morgan eindringlich an.
»Gibt’s einen?«, sagte Morgan. Doch als Pepper ihm seine Pistole reichte, lächelte er. »Also, warum ist mir das nicht eingefallen? Tja, dann, Captain, bedienen Sie sich.« Morgan hielt ihm die Pistole hin.
»Was soll das?«, sagte Lasseur.
»Ihre Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen. Wenn Sie wirklich derjenige sind, der Sie zu sein vorgeben, dann hat er Sie an der Nase herumgeführt. Soll er damit davonkommen? Hier, nehmen Sie schon. Bringen Sie das Miststück um.«
Lasseur zögerte. Dann nahm er zögernd die Waffe. Croker machte ein skeptisches Gesicht. Er nahm seine Pistole und zielte auf Lasseur.
»Erschieß mich ruhig«, sagte Hawkwood. »Sie werden lediglich einen Neuen schicken.«
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