Sie sprangen in die Schlucht und rannten, so schnell der unebene Boden es gestattete, vorsichtig, um den Halt nicht zu verlieren, und kamen schließlich am Fuße einer Böschung in ein noch unwegsameres Dickicht. Sie blieben stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Ihre Lungen fühlten sich an, als müssten sie bersten. Hawkwood versuchte, den Hang hinaufzuschauen, wo sie gerade hergekommen waren, aber der Wald war so dicht, dass man nichts sehen konnte.
Als sie in den Wald gekommen waren, war ihre Ankunft von einer Schar laut schreiender Vögel kommentiert worden, doch jetzt war alles Leben um sie herum verstummt. Die Tiere überlegten offenbar noch, was sie von dieser Invasion zu halten hatten.
Sie gingen weiter. Ihr einziges Ziel war es jetzt, den Abstand zwischen sich und ihren Verfolgern so weit wie möglich zu vergrößern. Sie wussten, dass Morgan die Verfolgung nicht aufgeben, sondern im Gegenteil alle Kräfte aufbieten würde, und deshalb war es klug, so lange wie möglich auf dem Wildwechsel zu bleiben. Das war besser, als durch die weniger zugänglichen Strecken des Waldes zu stolpern, wo ihre Verfolger sie leichter einholen konnten. Hawkwood schätzte, dass sie vielleicht etwas über eine Meile weit gelaufen waren, seit sie die Mauer bezwungen hatten. Es war noch nicht weit genug. Doch solange sie sich versteckt hielten und einigermaßen schnell vorankamen, hatten sie eine Chance.
Es war warm, selbst im Schatten der Bäume. Sie waren beide in Schweiß gebadet, als Hawkwood abermals haltmachte. Mit laut pochendem Herzen stand er still und lauschte. Die Sonne schien durch das dichte Blätterdach und warf Schatten auf das Pflanzendickicht. Das Einzige, was zu hören war, waren Vogelrufe.
»Ich glaube, ich habe Masson und Leberte gesehen«, sagte Lasseur nach Luft ringend.
Hawkwood runzelte die Stirn und versuchte ebenfalls, zu Atem zu kommen. »Wo?«
»An der Mauer. Sie waren unter denen, die hinter uns herkamen. Leberte hatte eine Muskete.«
»Dann war das wahrscheinlich der Grund, warum ich nicht getroffen wurde. Ich habe noch nie viel von französischen Schützen gehalten.« Hawkwood lachte.
»Vielleicht hat er absichtlich danebengeschossen«, sagte Lasseur immer noch keuchend.
Hawkwood dachte über diese Möglichkeit nach und fragte sich, ob Lasseur sich nicht vielleicht an einen Strohhalm klammerte.
»Das werden wir wahrscheinlich niemals erfahren«, sagte Hawkwood.
Dann hörte er es. Der Lärm kam von irgendwo in den Bäumen jenseits der Schlucht, aus der Richtung des Haunt.
Es war Hundegebell.
Er sah, wie Lasseur bleich wurde, als ein zweiter Hund einstimmte und ein Heulen ertönte wie von armen Seelen, die Höllenqualen litten.
Im Geiste sah Hawkwood Thor und Odin mit hochgezogenen Lefzen. Bei dem Gedanken lief es ihm kalt über den Rücken. Er sah Lasseur an, dessen Hemd nass vom Schweiß war.
»Wir müssen weiter«, sagte Hawkwood.
Lasseur nickte matt. Er sah hoch, blinzelte durch das Blätterdach und deutete in eine Richtung. »Dort entlang.«
»Was ist in der Richtung?«
»Der Fluss.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Dann sollten wir schneller laufen«, sagte Hawkwood.
Der Wildwechsel hörte nach etwa zweihundert Yards auf. Der Wald wurde lichter, und Hawkwood sah Weideland durch die Bäume, grüne, ebene Wiesen, auf denen Schafe weideten. Er sah Hecken und einen Zaunübertritt und in der Ferne ein Haus.
Und immer noch hörte er die Hunde. Er hörte auch laute Rufe. Sie waren schon wesentlich näher als beim ersten Mal. Ihre Verfolger waren ihnen noch immer auf der Spur. Es kam Hawkwood vor, als seien es mehr als zwei Hunde, aber er hatte keinen Wunsch, stehen zu bleiben, um nachzuzählen.
Lasseur schloss die Augen, als wollte er damit den Lärm ausschließen oder sich vor den Konsequenzen schützen, falls sie gefasst werden sollten.
Sie liefen auf eine Lichtung zu, die hinter den Bäumen lag. Beim Näherkommen erkannte Hawkwood, dass es keine Lichtung war, sondern eine Straße. Stolpernd blieben sie stehen und verkrochen sich in einem kleinen Erlengebüsch.
Hawkwood überlegte, ob es wohl dieselbe Straße war, auf der sie in jener Nacht zum Haunt gekommen waren. Im Mondlicht hatten alle Straßen gleich ausgesehen. Er reckte den Hals. Der Weg zeigte tiefe Radspuren, also musste es eine stark befahrene Strecke sein. Er sah auch Spuren von Rindern, die hier entlanggetrieben worden waren.
Vorsichtig schob er sich vor. Fünfzig Yards vor ihnen verschwand die Straße hinter einer Biegung, aber sie schien in beiden Richtungen leer zu sein. Hinter ihnen ertönte Hundegebell.
»Sie holen uns ein!« Lasseur zog Hawkwood am Ärmel. »Komm schon!«
Er wollte gerade auf die Straße hinaustreten, als Hawkwood ihn wieder nach unten zog. Lasseur wollte gerade protestieren, doch dann fühlten seine Hände, wie der Boden vibrierte. Er duckte sich. Drei Sekunden später tauchten in der Biegung rechts von ihnen zwei Reiter auf, die sich schnell näherten. Tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, galoppierten sie an ihnen vorbei.
Als das Hufgetrappel verhallte, hob Lasseur den Kopf. »Wie hast du das gewusst?«, flüsterte er.
»Erfahrung«, sagte Hawkwood.
»Morgans Leute?«, fragte Lasseur.
»Wir müssen davon ausgehen.«
Sie überquerten die Straße und versteckten sich schnell im Wald auf der anderen Seite. Hinter ihnen konnten sie die Rufe der Hundeführer hören. Es klang, als klopften sie das Unterholz nach Wild ab, sie schienen zu wissen, dass sie ihrer Jagdbeute immer näher kamen.
Wieder lichtete sich der Wald. Hawkwood und Lasseur gingen vorsichtig wie auf Eierschalen. Am Waldrand blieben sie stehen. Keinen Steinwurf entfernt sah Hawkwood den Fluss hinter einer kleinen Wiese. Er war mindestens dreißig Yards breit, beide Ufer waren von Bäumen gesäumt. Er sah nach links. In etwa zweihundert Yards Entfernung war eine alte Steinbrücke. Er sah das Geländer und darunter den Brückenbogen mit dem Schlussstein darin. Er sah auch Schilf und hörte Wasser über ein Wehr rauschen.
Langgezogenes Hundegeheul, immer näher und immer lauter, erinnerte ihn daran, warum sie zum Wasser gerannt waren. Wenn sie es bis zum Fluss schafften, wäre es für die Hunde schwer, wenn nicht unmöglich, ihrer Spur zu folgen.
Sie traten aus dem Schutz der Bäume.
Hinter ihnen knackte ein Zweig.
Hawkwood und Lasseur erstarrten. Zu seiner Rechten sah Hawkwood einen Schatten, im gleichen Moment nahm seine Nase einen bekannten Geruch wahr.
»Hab ich euch endlich«, sagte Del. Er trat hervor und grinste, wobei sein Mund in dem mageren Gesicht wie ein grotesker Schlitz wirkte. Er trug kein Mönchsgewand und auch keine geisterhafte Kapuze, er hatte lediglich eine Pistole in der Hand.
Wieder kam das Geheul aus dem Wald hinter ihnen und Hawkwood wurde fast übel bei dem Gedanken, dass Morgans Leute sie eingeholt hatten.
Del grinste wieder. »Hab euch kommen sehn. Ihr habt ja auch ziemlich Krach gemacht. Aber jetzt geht der Spaß erst so richtig los«, sagte er. Seine Stimme schien sich zu verändern, sie wurde dunkler, drohender. Plötzlich schien Del gar nicht mehr so einfältig.
»Nein«, sagte Lasseur. »Das glaube ich nicht. Heute nicht.«
Etwas in Lasseurs Stimme ließ Del ahnen, dass er sich in Gefahr befand. Er reagierte sofort und panikartig.
Hawkwood stand rechts von Lasseur und nahm Del einen Teil der Sicht, als Lasseur die Pistole aus dem Gürtel zog. Mit einer Geschwindigkeit, die so gar nicht zu seinem tölpelhaften Äußeren passte, hob Del seine Waffe und schoss. Hawkwood spürte den Stoß an seinem Kopf. Während er in einem schmerzhaften Nebel zu Boden ging, hörte er, wie Lasseur das Feuer erwiderte. Das Letzte, was er wahrnahm, war eine große rote Blume, die auf Dels Brust aufblühte.
Dann war alles zu Ende.
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