»Inwiefern?«
»Ich nehme immer noch Pilger auf.«
»Pilger?«
»Hier pflegte man Pilger auf dem Weg nach Canterbury zu beherbergen, bis König Henry die Mönche alle hinauswerfen ließ. Heutzutage gewähren wir Leuten wie Ihnen einen Zufluchtsort. Merkwürdig, wie manches sich fügt, finden Sie nicht?«
»Dann wurden auch schon andere Gefangene hierhergebracht?«
Morgan lächelte. »Nur die, die uns vielversprechend schienen.«
»Haben Sie denen auch ein Angebot gemacht?«
Pepper war in einiger Entfernung ebenfalls stehen geblieben, und Hawkwood bemerkte, wie er bei dieser Frage erstarrte. Das Lächeln auf Morgans Gesicht veränderte sich kaum, obwohl die Lachfältchen um seine Augen vielleicht nicht mehr ganz so zahlreich waren. Hawkwood bemerkte, dass die Hunde ebenfalls stehen geblieben waren. Der gestromte rannte über den Rasen, um ausführlich das Hinterteil seines Kumpels zu beschnüffeln.
»Sie wissen von unserem Kampf auf dem Schiff«, sagte Hawkwood. »Und Sie sprachen von unserer Verlegung. Sie haben offenbar ein gutes Spionagesystem.«
»Ich habe meine Informationsquellen.«
»Die Wächter?«
»Die sind nützlich, wenn es darum geht, in die andere Richtung zu schauen, oder Nachrichten weiterzugeben, aber auf den Schiffen arbeiten viele Menschen und ich kann es mir leisten, ein großes Informationsnetz zu unterhalten - an Land und auf dem Wasser. Geld redet immer.«
In diesem Augenblick wurde irgendwo im Kloster eine Handglocke geläutet. Die Hunde hoben die Köpfe.
Morgenandacht? , dachte Hawkwood verblüfft. Jetzt fehlt bloß noch, dass Morgan hier Gebetsstunden abhält.
»Ach«, sagte Morgan aufgeräumt und schwang sich den Spazierstock über die Schulter, »es wird Zeit, dass wir zurückgehen.« Er pfiff nach den Hunden und machte sich auf den Weg zum Haus. »Wir lassen Sie jetzt allein, damit Sie Captain Lasseur wecken können. Sagen Sie ihm, Frühstück gibt’s im Refektorium. Es wird uns Gelegenheit geben, Sie mit den anderen bekanntzumachen.«
»Welche anderen?«
Morgan lächelte. »Ihre Mitpilger.«
»Und das ist Leutnant Gilles Denard«, sagte Rousseau und seine Augen zwinkerten nervös hinter der Nickelbrille.
Denard, ein sympathischer Mann mit Halbglatze, der etwa Ende dreißig sein mochte, streckte die Hand über den Tisch aus. »Es ist mir eine Ehre, Captain.«
»Ebenfalls«, sagte Lasseur. »Darf ich Ihnen Captain Matthew Hooper vorstellen, einer unserer amerikanischen Verbündeten. Übrigens spricht er ausgezeichnet Französisch.«
Denard schüttelte Hawkwood die Hand. »Willkommen, Captain. Ich liebe Ihr Land sehr. Ich bin schon ein paarmal mit dem Schiff in Boston gewesen. Kennen Sie die Stadt? Es gibt ganz wunderbare Gasthäuser dort. Eines meiner liebsten war in der Washington Street. The Lion , das einem Colonel Doty gehörte, ja, ich glaube, so hieß er. Kennen Sie es?«
»Ich glaube, Sie meinen The Lamb «, sagte Hawkwood. » The Lion ist weiter nördlich.«
Denard runzelte die Stirn, dann lachte er. »Tatsächlich, ich glaube, Sie haben Recht! Na ja, es ist auch schon etwas her seit meinem letzten Besuch.«
»Gilles hat unter Surcouf gedient«, sagte Rousseau.
»Wann wurden Sie gefangen genommen?«, fragte Lasseur.
Denard spitzte die Lippen. »Juni 08. Ich war in Cadiz, dann wurde ich auf die Prudent gebracht, die vor Portsmouth liegt. Da war ich ein Jahr, ehe ich schließlich auf der Poseidon landete. Dort habe ich Rousseau hier kennengelernt.«
Bis auf die Poseidon sagten andere Schiffsnamen Hawkwood nichts. Er wusste, dass es eine Poseidon gab, weil sie einer der Hulks in der Medway vor Chatham war, von denen Ludd gesprochen hatte, als er in der Bow Street seinen Auftrag entgegennahm.
Sie saßen im Refektorium, das auf der anderen Seite des Klostergartens lag, gegenüber der Seite, wo sich Hawkwoods und Lasseurs Zelle befand. Der Raum war lang und rechteckig und hatte eine niedrige Decke mit schwarzen Balken. Zwei schwere Eichentische, ein langer und ein kurzer, bildeten ein T, das in der Mitte stand und sich fast über den gesamten Raum erstreckte. Auf den Tischen stand das Frühstück: frisch gebackenes Brot, Schinken, Bratwürste, Eier und Kaffee. Morgan hatte mit der Verpflegung nicht gegeizt.
»Sind Sie beide zusammen geflüchtet?«, fragte Lasseur, indem er nach der Kanne griff und sich einen Becher Kaffee einschenkte. Die Kanne in der Hand, sah er Hawkwood fragend an. Dieser nickte und Lasseur füllte auch seinen Becher wieder.
Rousseau nickte. »Wir haben uns mustergültig benommen, bis wir Hafterleichterung bekamen. Dann machten wir eines Tages einen Spaziergang und kamen nicht wieder. Und Sie?«
»Wir sind gestorben«, sagte Lasseur grinsend. Dann erklärte er.
»Mein Gott!« Denard sah ihn sprachlos an.
Hawkwood nahm einen Schluck Kaffee. Er war stark und hatte einen bitteren Nachgeschmack. Es erinnerte ihn an das Gebräu, mit dem er sich oft am Lagerfeuer hatte begnügen müssen.
Rousseau stellte nacheinander die anderen Männer am Tisch vor. Insgesamt waren es acht.
»Leutnants Souville und Le Jeune von der Bristol . Leberte kommt von der Buckingham . Louis Beaudouin dort drüben hat es geschafft, von der Brunswick zu flüchten, und Masson und Bonnefoux dort am Ende sind Ihnen vielleicht dem Namen nach bekannt. Sie sind von Ihrem Schiff, der Rapacious .« Rousseau lachte leise. »Ich möchte nicht in der Haut dieses Commanders stecken bei den vielen Gefangenen, die dem weggelaufen sind.«
»Captain Hellard lässt Sie auch herzlich grüßen«, sagte Lasseur. »Er lässt Ihnen sagen, dass er Sie sehr vermisst und dass Sie bitte bald zurückkommen möchten.«
Während Lasseur seine Späße machte, nahm Hawkwood einen weiteren Schluck Kaffe und hakte im Geiste die Namen auf der Liste ab, die Ludd ihm gegeben hatte. Zusammen mit den beiden Männern, die auf dem Hulk ermordet und beseitigt worden waren, stimmte die Anzahl. Nun wusste er also über alle geflüchteten Gefangenen Bescheid, damit war wenigstens dieses Rätsel aufgeklärt.
Er fragte sich, ob Masson und Bonnefoux von den beiden Ermordeten wussten. Doch er fand, dass es keinen Sinn hätte, ihnen davon zu erzählen.
»Wie sind Sie vom Schiff gekommen?«, fragte Hawkwood die ehemaligen Gefangenen von der Rapacious .
Es war Masson, ein magerer Mann mit großem Adamsapfel, der antwortete. »Wir versteckten uns in zwei leeren Wasserfässern. Was ist daran so lustig?«, fragte er, verwirrt von Lasseurs amüsiertem Gesichtsausdruck.
Lasseur schüttelte den Kopf.
»Wie haben die anderen Ihr Verschwinden vertuscht?«
»Sie haben wahrscheinlich das Abzählen durcheinandergebracht«, erwiderte Bonnefoux ohne zu zögern. »Wissen Sie das nicht?«
Hawkwood schüttelte den Kopf. »Unser Abschied war … etwas hastig. Wir haben es nie erfahren.«
Bonnefoux grinste. Er hatte bemerkenswert ebenmäßige, weiße Zähne.
Im Laufe der Zeit hatten sie sich Werkzeug beschafft. Mit Bohrern, die bei Arbeitseinsätzen geklaut worden waren und einer Säge, die aus einem Fassreifen gemacht war, schnitten sie runde Löcher mit abgeschrägten Kanten in die Planken zwischen Oberdeck, Geschützdeck und Orlopdeck. Während die Gefangenen beim Hinabsteigen gezählt wurden, stiegen einige von ihnen durch die Löcher wieder nach oben, stellten sich zu den übrigen und wurden nochmals gezählt. Hinterher wurden die Löcher geschlossen, bis zum nächsten Ausbruch.
So verdammt einfach , dachte Hawkwood. Und solange die Gefangenen ihre Nerven behielten und die Wachen den Trick nicht bemerkten, gab es keinen Grund, ihn nicht immer wieder anzuwenden.
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