Hawkwood hatte keine Uhr. Er schätzte, dass es etwa zwei Stunden nach Sonnenaufgang sein musste. Es sah aus, als würde es wieder ein schöner Tag werden. Die blasse Sonne hatte den Morgennebel schon zum größten Teil aufgelöst, nur über dem taufeuchten Gras hingen noch ein paar dünne Schwaden. In den nahen Wäldern hörte man Ringeltauben gurren und umherflattern und von den Wiesen weiter unten drang das schwermütige Muhen der Kühe durch die morgendliche Stille herauf. Es war nicht schwer sich vorzustellen, warum ein Mönchsorden sich diese friedliche Umgebung für eines ihrer Klöster ausgesucht hatte. Das erhöhte Gelände und die Abgeschiedenheit hatten den frommen Männern sicher das Gefühl gegeben, hier Gott näher zu sein.
Hawkwood bezweifelte, dass für den augenblicklichen Landbesitzer ähnliche spirituelle Erwägungen eine Rolle gespielt hatten. Ezekiel Morgan hatte diesen Ort in erster Linie aus logistischen Gründen gewählt. Man hätte blind sein müssen, um nicht die strategischen Vorteile dieser Lage zu erkennen, von der aus man einen so weiten Blick über die Umgebung hatte. Selbst wenn man den umliegenden Wald berücksichtigte, war es äußerst unwahrscheinlich, dass es einem größeren Trupp gelingen könnte, unbemerkt in den Haunt einzudringen.
Er sah zurück. Jetzt, bei Tageslicht, erfasste er erst das gesamte Herrschaftsgebiet von Ezekiel Morgan. Jess Flynns kleiner Hof hätte hier bestimmt mehrmals hineingepasst. Wenn die Größe des Anwesens ein Maßstab war, dann war mit dem Schmuggelgeschäft weitaus mehr Geld zu verdienen, als Hawkwood es sich vorgestellt hatte. Kein Wunder, dass der Mann so einen Aufwand mit der Bewachung trieb.
Außer dem Haus und den Stallungen entdeckte Hawkwood eine Reihe weiterer Außengebäude und eine große Scheune. Er sah auch mehrere Koppeln, auf denen Pferde grasten. Man konnte die Mauerreste des ehemaligen Klosters leicht an ihrem Alter und an der Bauweise erkennen. Von der Kapelle standen nur noch die Außenmauern, das Dach war seit langem eingefallen, und das Kirchenschiff war ungeschützt Wind und Wetter preisgegeben. Die hohen Fenster, die einst mit kunstvollen bunten Bildern verglast gewesen sein mochten, sahen jetzt aus wie blinde Augenhöhlen in einer Reihe grauer Totenschädel. Zwischen den Mauern der Ruinen grasten schwarzwollige Schafe.
Hawkwood atmete tief durch. Die Luft war frisch und duftete nach Gras und Blüten, der allgegenwärtige Gestank der überfüllten Londoner Straßen schien eine Ewigkeit entfernt. Auch der Geruch des Hulk war nur noch eine blasse Erinnerung.
Die neun Fuß hohe Mauer um das Anwesen schien auf den ersten Blick intakt zu sein, aber als Hawkwood weiterging, bemerkte er Stellen, wo sie repariert worden war. Ein Stück weiter entfernt sah er Teile, die eingestürzt waren.
Die Lücken waren mit Palisadenhölzern überbrückt worden, die jedoch nicht sehr widerstandsfähig aussahen. Man sah jedoch auch, dass es nur eine vorübergehende Maßnahme war, denn überall lagen schon Handwerkszeug und Steine bereit, außerdem Eimer und Säcke mit Sand und Kalk zum Mischen von Mörtel.
Die Mauer verschwand im Wald, aber Hawkwood war überzeugt, dass sie entweder unbeschädigt war, oder dass schadhafte Stellen, genau wie die anderen, vorübergehend gesichert waren, bis sie repariert werden konnten. Er hatte genug gesehen und wusste jetzt, dass Morgan, genau wie ein guter General, seinem Schutzwall größte Aufmerksamkeit widmete. Hawkwood erinnerte sich an die Stadtmauern, die er in Spanien gesehen hatte; auch hier war die Kirche immer auf dem höchsten Punkt gebaut worden.
Das Auftauchen weiterer Frühaufsteher war nicht weiter überraschend. Hier gab es Viehhaltung, also musste es auch Personal geben, das sich darum kümmerte. Zwischen Scheune und Stallgebäude tauchten zwei Gestalten auf. Es war auch nicht schwer gewesen, Morgans Wachen zu entdecken, die außen an der Mauer patrouillierten. Sie hielten sich zwar in einigem Abstand, aber dicht genug, dass Hawkwood die Schlagstöcke in ihren Händen und die Pistolen im Gürtel erkennen konnte. Sie hatten ihm keine Schwierigkeiten gemacht, denn Hawkwood hatte nicht versucht, sich zu verstecken, sondern war ganz offen aufgetreten, deshalb hatten sie in ihm keine Bedrohung gesehen. Er hob die Hand, um ein Wiedererkennen anzudeuten, und setzte seinen Rundgang ungestört fort. Das mangelnde Interesse, das die Wachen ihm entgegenbrachten, ließ darauf schließen, dass sie vielleicht doch nicht ganz so gewissenhaft waren, wie ihr Arbeitgeber annahm, was wiederum bedeutete, dass der Haunt doch nicht ganz so sicher abgeriegelt war wie Morgan dachte. Möglicherweise waren die Männer nach einer durchwachten Nacht nachlässig geworden waren, und Hawkwood registrierte diese Information, die vielleicht einmal nützlich sein könnte.
Aus dem Gras, das die Schafe sehr kurz gehalten hatten, erhoben sich vor ihm die Außenmauern eines uralten Gebäudes. Die leeren Torbögen wirkten wie offene Mäuler. Um die bemoosten Steine wuchs Unkraut. Er wollte gerade vorbeigehen, als er durch einen Mauerspalt eine dunkle vierbeinige Gestalt sah. Als der Hund Hawkwood entdeckte, blieb er wie angewurzelt stehen.
Hawkwood erstarrte ebenfalls.
Es war ein riesiger Hund mit gestromtem Fell, der mindestens drei Fuß Schulterhöhe hatte. Als ein zweiter Hund, genau so groß wie der erste, um die Ecke getrabt kam, krampfte sich Hawkwoods Magen zusammen. Dieses Tier war hellbraun, Gesicht und Schnauze waren schwarz.
Der gestromte Hund knurrte. Es war einer der unheimlichsten Laute, die Hawkwood je gehört hatte. Er kam tief aus der Brust des Tieres und ließ die Luft vibrieren.
Die Hunde taten einen Schritt auf ihn zu, völlig lautlos auf dem noch feuchten Gras.
Hinter ihnen erschienen jetzt zwei weitere Gestalten. Eine war groß und hatte einen grauen Bart, die andere war kleiner, hatte einen Stiernacken und trug einen kräftigen Spazierstock aus Schlehdorn.
»Captain Hooper!«, rief Ezekiel Morgan gut gelaunt. »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Sie sind früh auf. Ich hoffe, Sie fanden Ihre Unterkunft bequem?«
Hawkwood merkte erst jetzt, dass er den Atem angehalten hatte. Langsam atmete er aus. Er gab sich Mühe, die Hunde nicht anzusehen, was nicht ganz einfach war, denn erstens ließen sie ihn nicht aus den Augen, und zweitens wusste er, wie kräftig ihr Gebiss beschaffen war.
»Neues Quartier, neues Bett. Man braucht immer eine Weile, bis man sich eingewöhnt hat. Ich dachte, ich gehe ein bisschen an die frische Luft. Sie wissen ja, wie es ist.«
Er hatte nicht gelogen. Er hatte schlecht geschlafen, aus genau den Gründen, die er genannt hatte. Lasseurs Schnarchen hatte auch nicht gerade geholfen.
Morgan breitete die Arme aus und tat einen tiefen Atemzug. »Ein Morgenspaziergang? Ausgezeichnete Idee! Wer könnte es einem verdenken, an einem Morgen wie diesem? Da freut man sich doch, am Leben zu sein. Ist Captain Lasseur nicht mitgegangen?«
Hawkwood fragte sich, ob der Mann neben Morgan sich auch freute, am Leben zu sein. Schwer zu sagen. Cephus Peppers Gesicht war völlig ausdruckslos.
»Der schläft noch. Was macht das Neugeborene?«
Morgan klopfte mit dem Stock gegen seinen Stiefelschaft. »Das Fohlen? Das ist wohlauf. Die Stute ist eine gute Mutter. Den beiden geht’s gut, denke ich.«
Morgan machte keine Anstalten, die Hunde zu sich zu rufen. Hawkwood wusste, der Mann wollte zeigen, wer hier das Sagen hatte: Es war Morgans Anwesen, und man lebte nach Morgans Gesetzen.
»Schöne Tiere«, sagte Hawkwood, der es noch immer für vernünftiger hielt, stillzustehen und keine plötzliche Bewegung zu machen.
»Thor und Odin«, sagte Morgan. »Thor ist der gestromte. « Liebevoll betrachtete er die Hunde. »Die Mastiffs kamen mit den Phöniziern nach Europa, wussten Sie das?«
Die Hunde stellten die Ohren auf, als sie ihre Namen hörten. Sie sahen Morgan an, als warteten sie auf seinen Befehl. Es war das erste Mal, dass sie Hawkwood aus den Augen ließen.
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