Murat hatte Recht gehabt. Der Gestank im Sack war wirklich überwältigend. Der Geruch nach Urin stieg ihm in die Nase, während der metallene Geschmack von Blut den Rachen reizte. Er wollte gar nicht daran denken, mit welchen anderen Körperflüssigkeiten der Sack noch in Berührung gekommen war. Am besten, man blendete diesen Gedanken einfach aus. Er vermutete, dass es Lasseur ebenso erging. Auf irgendeine perverse Art hoffte er es sogar.
Plötzlich veränderte sich der Griff unter seinen Schultern und seine Beine zeigten nach unten. Er wurde die Treppe hinaufgetragen. Nun ja, wenigstens mit dem Kopf voran, dachte er.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, getragen zu werden und dabei nichts zu sehen. Unter Deck war es zu finster, um durch das Segeltuch hindurch etwas zu erkennen außer ganz schwache Unterschiede in den Schatten, die sich um ihn bewegten, aber seine anderen Sinne fingen bereits an, dies zu kompensieren. Jeder Schritt, jedes Ächzen im Holz, jedes Poltern, jede Äußerung, sei es Rufen oder Flüstern, klang ganz anders. Als er in den Leichensack geschlüpft war, war sein erster Gedanke gewesen, seinen Körper so weit wie möglich zu entspannen, um das Gewicht eines Toten zu simulieren. Doch jetzt, wo alle seine Sinne angespannt waren, gab es in seinem Körper keinen Muskel, keine Sehne und keinen Nerv, der nicht bis zum Äußersten angespannt war. Alles wurde beherrscht von der Furcht, entdeckt zu werden. Als er Charbonneau leise murmeln hörte: »Jetzt kommen wir an Deck«, bekam er schweißnasse Hände.
Der Übergang von der Dunkelheit zum Tageslicht war sofort erkennbar. Hawkwood konnte zwar nach wie vor nichts sehen, aber allein die Tatsache, dass es draußen, außerhalb des Segeltuchs hell war, machte die Enge des Sackes erträglicher.
Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, als er und Lasseur die erste Fahrt des Leichenbootes beobachtet hatten. Damals waren es sechs Tote gewesen, die übergesetzt werden mussten. Diesmal waren es mehr als doppelt so viele. Er hoffte inständig, dass sie nicht zwei Fahrten machen mussten.
»Festmachen!« Der Ruf kam ganz aus der Nähe.
Die Männer, die Hawkwood trugen, blieben stehen. Hawkwood war überzeugt, dass sie sein Herz hören konnten, das wie wild in seiner Brust klopfte.
Wieder kam dieselbe Stimme: »Also los, setzt eure Ärsche in Bewegung! Schmeißt das verdammte Ding schon runter! Der merkt nichts mehr, der ist doch sowieso schon tot!«
Auf diese Bemerkung folgte eine Lachsalve.
Sie gingen weiter. Hawkwood atmete aus und hörte, wie Charbonneau leise vor sich hin fluchte. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie viele Leichen vor ihm hochgetragen worden waren. Er hatte die Horrorvision, dass man ihn ins Netz legen könnte, wo ihn die anderen Leichen, die man nach ihm hineinwerfen würde, erdrücken könnten. Er bemühte sich, die panische Angst, die in ihm aufstieg, unter Kontrolle zu halten.
Dann wurde er hinuntergelassen. Durch das Segeltuch hindurch fühlte er das Netz sowie den Druck eines weiteren Sackes an seiner Seite. Er gestattete sich einige tiefe, vorsichtige Atemzüge. Das Blut, das der Arzt ihm ins Gesicht geschmiert hatte, war getrocknet, und er befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Er wusste nicht, ob es nur Einbildung war, oder ob es wirklich Pisse war, was er schmeckte.
Die Geräusche des Schiffes waren überall: das Rattern der Laufräder in ihren Blöcken, das Klopfen der Leinen gegen die Rahe, Stimmen, die sich in den verschiedensten Tönen und Lautstärken unterhielten, Möwen, die vom Flaggenknopf herab protestierten, das Trampeln von Militärstiefeln auf Deck.
Er fragte sich, ob der Körper neben ihm Lasseur war. Trotz seiner Bemühungen, gleichmäßig zu atmen, klopfte sein Herz wie wild, während er auf den Alarm wartete, der losbrechen würde, sobald man sein Verschwinden entdeckt hatte. Wie lange würde es Murat, dem Arzt und den Krankenwärtern gelingen, ihre Abwesenheit zu vertuschen?
Wieder erklang ein Ruf. Der Sack neben ihm bewegte sich.
Hawkwood stockte der Atem.
War es Lasseur, der einen Krampf bekommen hatte, oder eine misstrauische Wache, die kontrollierte? Dann rollte etwas gegen sein anderes Bein. Er hörte das Rasseln der Winsch und wusste, das Netz wurde wieder hochgezogen. Die Bewegung war wohl nur ein Ergebnis der Schwerkraft gewesen. Eine Erinnerung kam ihm: Makrelen im Netz, Köpfe und Schwänze durcheinander, und er überlegte, ob ein Netz voller Leichensäcke für Zuschauer wohl ähnlich aussah.
Murat hatte nicht nur wegen des Gestanks Recht gehabt. Hawkwood wusste, es konnte nicht mehr als zehn Minuten her sein, seit sie eingenäht worden waren, und dennoch schien es eine Ewigkeit her. Mit jeder weiteren Minute waren seine Nerven stärker angespannt. Abermals nahm er eine Bewegung des Netzes wahr. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass gleich etwas passieren würde. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich seelisch darauf vorzubereiten. Das Netz landete mit Schwung, es war eher eine Kollision als ein Aufsetzen - der Mann an der Winsch hatte keinen Funken Mitgefühl für die Toten - und aus der Bewegung unter ihm wusste er, dass sie in die Ducht gepackt worden waren. Er spürte, wie das Boot schaukelte, als die Totengräber und die Wachen einstiegen und ihre Plätze einnahmen. Dann kam der Befehl zum Ablegen, und dann das unverwechselbare Geräusch der Ruder, die sich in den Rudergabeln drehten, als das Boot langsam von der Seite des Schiffs wegmanövrierte.
Es war warm im Sack und das Quietschen der Ruder und das sanfte Schaukeln des Bootes übten eine Art Hypnose auf ihn aus. Hawkwood war sich nicht nur des Gestanks in seinem eigenen Leichensack bewusst, sondern auch aller anderen um ihn, alle verdreckt mit entweder Blut, Kot oder Pisse, und manche von ihnen mit allem gleichzeitig. Der Gestank würde sich noch verschlimmern, wenn die Sonne höher stand, deshalb wollte Hellard die Leichen von Bord haben. Es war ohnehin schon schwer genug, ein gewisses Maß an Hygiene aufrechtzuhalten. Die Zustände wären unhaltbar geworden, besonders im Krankenrevier, wenn die Leichen noch länger an Bord geblieben wären.
Hawkwood wusste, dass sie nicht mehr weit vom Ziel waren, als er den Befehl vernahm, die Ruder einzuziehen. Eine kurze Stille, dann ein Zittern, als der Kiel des Bootes knirschend aufsetzte, bestätigten die Vermutung.
Als Hawkwood aufs Vorland hinaufgetragen wurde, hörte er jemanden graben. Ein starker, atemberaubender Gestank drang in den Sack, je näher sie den Spatengeräuschen kamen, es war so schlimm, dass es sogar seinen eigenen Gestank überdeckte. Hawkwood wusste, was es war. Er hatte es schon oft gerochen, im Feldlazarett und in den Leichenhallen von Krankenhäusern. Es war der Gestank verwesender Leichen. Er lag auf der Erde, Kieselsteine im Rücken, die Nase gegen das übel riechende Segeltuch gedrückt, und musste seine ganze Willenskraft zusammen nehmen, um sich nicht durch Würgegeräusche zu verraten.
»Also los, schmeißt die Miststücke rein!«
Der Befehl war aus einiger Entfernung gekommen. Er vermutete, dass die Wachen in einiger Entfernung vom Massengrab gegen den Wind standen.
Eine Stimme kam dicht an sein Ohr und Charbonneau flüsterte: »Nicht mehr lange, Captain. Es ist gleich vorbei.«
Wieder schoben sich Hände unter seine Schultern und zerrten ihn über den Schlick. Er fühlte, wie sein Schulterblatt über einen scharfen Stein schrammte, dann ging es steil nach unten. Er landete auf etwas, das sich wie ein Holzhaufen anfühlte, zumindest den Höckern und Unebenheiten nach zu urteilen, aus denen gelegentlich etwas Spitzes ragte. Der Gestank nach verwesenden Leichen war plötzlich noch viel schlimmer als bisher.
Er hörte, wie ein Spaten in den Boden gestoßen wurde. Hawkwood schnappte nach Luft, als die erste Schaufel voll Erde und Kieselsteinen auf seinen Beinen landete. Sein Herz stolperte, als die zweite Ladung auf seine Brust fiel. Die Erde war feucht und schwer. Er versuchte, seine Arme zu bewegen, wurde aber durch eine weitere Ladung Steine verhindert, die von außen auf das Segeltuch prasselten wie Regen auf ein Zelt.
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