Im selben Augenblick kam ein fernes Grollen, ähnlich einem kurzen Donner, von der Flussmündung her, gefolgt von dem leisen Läuten einer Glocke. Die Hunde spitzten die Ohren und sahen in die Richtung des Geräusches. Isaacs Kopf schnellte herum. »Scheiße!«
»Das klingt nicht gut«, sagte Lasseur.
Hawkwood legte den Hirtenstab hin, schlüpfte in die Ärmel des Kittels und zog sich das Kleidungsstück über den Kopf. Es war so ähnlich, wie in den Leichensack zu kriechen, nur von der anderen Seite. Er stülpte sich den Hut auf den Kopf und ergriff den Stock.
Isaac nickte anerkennend. Hawkwood kam sich vor, als habe er sich gerade in einen Dorfidioten verwandelt.
Lasseur zog ebenfalls Kittel und Hut an und brachte ein etwas schiefes Lächeln zustande.
Das machte alles noch schlimmer. Hawkwood fragte sich, ob es wohl vorkam, dass ein Dorf gleich zwei Trottel hatte. Er hob das Baumwollsäckchen auf und schwang es über die Schulter.
Isaac ließ eine Reihe kurzer, durchdringender Pfiffe hören. Gehorsam rasten die Hunde los und trieben die Schafe von beiden Seiten auf ein Tor am Ende des Feldes zu. Isaac deutete auf den bewaldeten Hügel, der ihnen am nächsten war. »Wir gehen mit ihnen um Gorse Hill herum und dann in die East Church Road.«
Lasseur folgte dem Stock, dann sah er zurück zur Küste. Hawkwood wusste, der Privateer überschlug die Zeit.
»Wenn sie die Kanone abgeschossen haben, bedeutet es, dass sie das Schiff durchsucht haben und uns vermissen«, sagte Hawkwood. »Als Nächstes werden sie also einen Trupp losschicken, um das Massengrab zu untersuchen. Das dürfte eine Weile dauern.«
Es war klug gewesen, die Leichensäcke mitzunehmen und die Lücken im Grab wieder aufzufüllen. Wenn es keine sichtbaren Anzeichen dafür gab, dass Hawkwood und Lasseur aus dem Grab geflohen waren, konnte man ihre Flucht mit dem Leichentransport nur beweisen, indem man das Massengrab öffnete, in alle Leichensäcke schaute und die Toten zählte, was hoffentlich alles zu noch größeren Verzögerungen beitragen würde. Hawkwood beneidete die Männer nicht, die diese Aufgabe zu erledigen hatten.
Die Hunde genossen die Wanderung und sausten unter Isaacs wachsamen Augen im Zickzack hin und her. Die Schafe waren die strenge Behandlung offenbar gewohnt, manchmal sah es sogar aus, als gehorchten sie Isaacs kurzen, schrillen Pfiffen noch vor den Hunden. Als sie am Tor angekommen waren, warteten die Tiere geduldig, bis die Männer angekommen waren. Isaac zeigte auf eine kleine Holzbrücke auf der anderen Seite. »Dort drüben ist die Straße.«
Die Straße war nichts weiter als ein schmaler, etwa fünfzehn Fuß breiter Reitweg; eng und holprig und zerfurcht von Hufen und Wagenrädern. Auf der anderen Seite stieg das Land sanft an.
»Das hier ist die Minster Road«, sagte Isaac. »Wir wollen zu der Straße hinterm Berg, die geht über die ganze Insel. Wir gehen dann nicht direkt auf ihr, wir bleiben daneben, aber so kommen wir auch dorthin, wo wir hin wollen. Wir müssen nur die Augen offen halten, alles andere besorgen die Hunde schon. Wenn ihr jemanden seht, sagt Bescheid. Nicht vergessen: die sehen nur drei Einheimische, die mit’ner Schafherde unterwegs sind, also gibt’s keinen Grund, wegzurennen. Behaltet die Hüte auf und haltet die Köpfe gesenkt, und was immer ihr tut, macht euren verdammten Mund nicht auf. Ihr könnt ihnen auf die Stiefel spucken, wenn ihr wollt. Das ist die Miliz gewohnt. Die haben hier das Sagen, aber die Leute von Sheppey halten nicht viel von Autorität - die lassen sich nicht gern vorschreiben, was sie tun sollen, das geht ihnen gegen den Strich.« Isaac grinste. »Verstehen Sie, Monsör?«
Lasseur nickte. »Ich glaube schon.«
»Also los, meine Herrn«, sagte Isaac. »Dann machen wir uns mal auf die Wanderschaft.«
Die Schafe gingen nicht sehr schnell, besonders wenn es bergauf ging, und als Tarnung und Fluchthilfe war ihr gemächliches Trödeln nicht gerade vertrauenerweckend. Doch zugleich musste Hawkwood sich eingestehen, dass diese Art des Wanderns äußerst angenehm sein konnte, wenn man keine Sorgen hatte und einem auch nicht gerade die Miliz auf den Fersen war.
Doch selbst bei dem Gedanken, dass die Verfolger vielleicht immer näher kamen, war die einfache Tatsache, dass man nicht mehr auf diesem Schiff war, schon ein wunderbares Gefühl. Keine Holzwände mehr, keine Männer, die in Gestank und Dunkelheit aufeinanderhockten. Nur der weite, blaue Himmel und das Gras unter den Füßen. Auch der Geruch der Marsch schien hier auf den Wiesen und Feldern längst nicht so allgegenwärtig. Und natürlich hatten sie die Begleitung der Singvögel. Nicht das raue, ununterbrochene Kreischen der Möwen, sondern das melodiöse Zwitschern der Singdrosseln, der Amseln und der Heckenbraunellen. Hawkwood war der Kriegstrommel nach Spanien, Portugal, Südamerika und vielen anderen Ländern gefolgt, aber nirgendwo hatte er etwas gesehen, was mit der englischen Landschaft an einem hellen Sommermorgen vergleichbar gewesen wäre.
Sogar Lasseur schien entzückt. Hawkwood hatte gesehen, wie der Privateer immer wieder sein Gesicht der Sonne entgegenstreckte. Wenn der Franzose schon nicht auf seinem Schiff sein konnte, war dies wahrscheinlich das Nächstbeste für ihn.
In gleichmäßigem, gemächlichem Tempo erreichten sie schließlich die Hügelkuppe und wollten gerade auf der anderen Seite den Weg ins Tal nehmen, als Hawkwood sah, dass Isaac stehen blieb. Der Führer sah über Hawkwoods Schulter zurück gen Westen.
Hawkwood drehte sich um.
In der Ferne waren Reiter, und auf den ersten Blick sah es aus, als kämen sie direkt auf die drei Männer zu. Hawkwoods Herz schien vor Schreck stillzustehen, aber nach kurzer Zeit wandten sich die Reiter plötzlich nach Süden.
»Die werden zur Swale reiten.« Isaac schien sich sicher zu sein. »Kommen wahrscheinlich von der Queenborough Road oder von Mile Town. Vor denen brauchen wir uns nicht zu fürchten. Vielleicht haben sie ja die Garnison um Hilfe gebeten, es dürfte aber’ne Weile dauern, bis die mal soweit sind. Hier draußen gibt’s nicht viel berittene Polizei. Solange wir ganz ruhig bleiben und einfach weitergehen, wird uns nichts passieren. Das ist viel besser als rumzurennen wie kopflose Hühner. Und so weit haben wir’s auch gar nicht mehr. Für uns ist es fast wie’n Kirchgang, um die Sonntagspredigt zu hören.«
Sie aßen im Gehen. Das einfache Vergnügen, in ein Stück Brot zu beißen, das nicht erst in Wasser aufgeweicht werden musste, damit man es hinunterbekam, war fast unmöglich zu beschreiben. Der Käse war würzig und schmackhaft, die Äpfel säuerlich und knackig. Der Cider, der in der unterirdischen Kammer kühl geblieben war, wurde direkt aus dem Krug getrunken und war so erfrischend wie Wasser aus einem Gebirgsquell.
Sie waren mehr als zwei Stunden gegangen und hatten die Herde immer wieder ausruhen lassen, als es Hawkwood auffiel, dass sie, abgesehen von der berittenen Patrouille, den ganzen Vormittag keinen Menschen gesehen hatten. Auch Lasseur hatte das bemerkt.
»Deshalb haben wir auch diesen Weg genommen«, sagte Isaac, als Lasseur ihn darauf ansprach. »Die meisten Leute leben im Norden, an der Straße dort und an der Küste. Im Süden, nach Elmley und Harty zu, ist es sumpfig und von dort kommt das Fieber. Manche Leute sagen, es ist der letzte Ort, den Gott geschaffen hat. Darum nennen sie die Leute von Sheppey auch Swampies.«
»Swam-pies?« Lasseur hatte Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen.
»Man könnte sagen, es ist ein Kosename«, sagte Isaac und fügte trocken hinzu, »genau so, wie wir euch Froschfresser nennen.«
Lasseur hob spöttisch eine Augenbraue. Hawkwood unterdrückte ein Lachen, obwohl es ihm schwerfiel.
»Wohin bringen Sie uns?«, fragte Lasseur.
»Na ja, nicht bis nach Hause, so viel ist sicher. Wenn wir in Warden sind, hab ich meinen Teil erledigt. Dann muss sich jemand anderes um euch kümmern.«
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