Er hörte eine leise Stimme. »Leben Sie wohl, Captain.«
Dann wurde sein Gesicht mit Erde bedeckt, und die Welt wurde dunkel.
Hawkwood löste seine Hände und streckte den rechten Arm aus. Er bewegte seine Finger und versuchte, die Knie anzuziehen und war unglaublich erleichtert, als er feststellte, dass ihm beides gelang, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten. Er konnte seine Knie nicht sehr stark beugen, aber er wusste, dass er wahrscheinlich genug Spielraum hatte, um sich trotz des Gewichts der Erde zu befreien.
Durch das Segeltuch hindurch konnte er noch immer winzige Lichtpunkte wahrnehmen, ein Zeichen dafür, dass das Massengrab nur sehr oberflächlich und absichtlich flüchtig gefüllt worden war, wobei man gerade genug Erde über die frisch hinzugefügten Leichensäcke geworfen hatte, um die Milizionäre zu täuschen.
Er hörte keine Stimmen mehr. Sie hatten sich entfernt, als der Bestattungstrupp zum Boot zurückgegangen war. Er hörte in der Ferne Seevögel und am Strand das Plätschern der Wellen. Er hörte auch Schafe blöken. Auch dieses Geräusch war den Gefangenen vertraut, denn wenn der Wind von der Marsch herüberwehte, hörte man das schwermütige Klagen der Tiere bis aufs Schiff.
Er zog das rechte Knie an, streckte den rechten Arm aus und schob die geöffnete Hand ganz langsam an seinem Oberschenkel hinab. Es ging nicht so leicht, wie er erwartet hatte. Im Sack war nicht genug Platz, um ihm in Rückenlage den Spielraum zu geben, den er brauchte. Er wartete einen Augenblick. Dann holte er tief Luft und drehte sich auf die linke Seite, wobei sich die Leiche unter ihm bewegte. Ein Schwall fauler Luft traf ihn. Er schluckte den sauren Geschmack in seiner Kehle hinunter und versuchte wieder, sich zu bewegen. Diesmal schaffte er es fast. Seine Fingerspitzen schoben sich an seinem Knie vorbei. Er bog seine Schultern nach vorn und langte wieder nach unten. Seine Schultermuskeln reagierten mit schmerzhaftem Protest, aber endlich gelang es ihm, mit Daumen und Zeigefinger das Messer aus seinem Stiefelschaft zu ziehen.
Keuchend ruhte er sich aus und wartete, bis seine Schulter sich beruhigt hatte. Dann drehte er sich wieder auf den Rücken und zog den Arm hoch. Das Messer war weniger als eine Handbreit entfernt, als er die rasiermesserscharfe Klinge in die Naht über seinem Gesicht steckte und anfing zu schneiden.
Er war beim zweiten Stich, als er ein Geräusch bemerkte, das er vorher nicht gehört hatte. Seine Haut prickelte. Langsam zog er das Messer zurück.
Wieder hörte er das Geräusch, es klang, als ob sich jemand vorsichtig näherte. Hawkwood erstarrte. Er hörte ein leises Kratzen, dann wieder Stille. Dann war ihm, als ob er Stimmen hörte, doch er konnte nichts verstehen. Es musste die Miliz sein. Sie waren zurückgekommen, um nachzusehen. Offenbar versuchten sie, so leise wie möglich zu sein, aber es gelang ihnen nicht ganz. Vorsichtig drehte Hawkwood das Messer um und hielt es flach vor die Brust, den Arm darüber. Wieder hörte er das Kratzen. Plötzlich verdunkelte sich das Licht, das durch den Stoff gedrungen war. Eine Gestalt kniete über ihm. Ohne Vorwarnung kam eine Messerklinge, größer als seine eigene, durch den Spalt im Stoff, nur wenige Zoll von seinem Gesicht entfernt. Sie trennte mühelos die Stiche auf und die Ränder des Segeltuches wurden auseinander gezogen.
»Du stinkst fast so bestialisch wie ich.« Lasseur rümpfte die Nase, lachte leise und deutete mit dem Kopf nach hinten. »Er sagt, wir sollen uns beeilen und die Köpfe einziehen, was sehr vernünftig klingt.«
Hawkwood sah an Lasseur vorbei und sah einen Mann unbestimmten Alters, der mit einem Spaten in der Hand auf dem Boden hockte. Er trug ein langärmeliges graues Hemd und eine schmutzige braune Hose. Außer seinen zusammengekniffenen dunklen Augen konnte man nicht viel von seinem Gesicht sehen, denn über Mund und Nase trug er ein dreieckig gefaltetes Tuch. Hawkwood nahm an, dass das eher ein Schutz gegen den Gestank aus dem Massengrab war als der Versuch, sich unkenntlich zu machen. Unter dem Rand des weichen Filzhutes ringelte sich schwarzes Haar hervor.
»Hat er einen Namen?«, fragte Hawkwood.
»Er sagt, wir sollen ihn Isaac nennen.« Lasseur wollte Hawkwood gerade das Messer reichen, als er die Klinge sah, die dieser selbst unter seinem Arm verborgen hatte. »Ich sehe, du hast schon angefangen.«
Lasseur warf dem Mann hinter sich das Messer zu und sah beifällig zu, wie Hawkwood sich mit seiner eigenen Klinge befreite, ehe er das Messer wieder in seinem Versteck verschwinden ließ.
Lasseur grinste. »Vielleicht bist du ein noch viel größeres Schlitzohr als Murat.«
»Hört auf zu quatschen und bewegt eure Ärsche!« Der Mann, der sich Isaac nannte, steckte das Messer in den Gürtel. »Und vergesst die verdammten Säcke nicht. Vous parlez Englisch, ja?«
»Das sagte ich bereits«, erwiderte Lasseur. »Wir sprechen beide Englisch.« Er sah Hawkwood an und rollte mit den Augen.
»Gut, also dann Köpfe runter! Wir sind noch nicht in Sicherheit.«
Hawkwood und Lasseur taten, wie er befohlen hatte, und der Mann fing an, Erde in das Massengrab zu schaufeln, um die Vertiefungen, die Hawkwood und Lasseur hinterlassen hatten, wieder zu füllen. Als er zufrieden war, drehte er sich um und kroch an ihnen vorbei, immer noch tief geduckt. »Kommt mit. Bleibt dicht hinter mir.«
Hawkwood riskierte einen Blick aufs Wasser hinaus und sah, warum sie sich ducken sollten. Zwischen dem Massengrab und dem Strand erhob sich eine flache Sandbank. Auf ihrer anderen Seite fiel der steinige Strand zum Wasser ab. Hier wo sie waren, war die Erhebung gerade hoch genug, um den Blick auf die Schiffe zu versperren. Vom Boden aus war der Blick auf die Flussmündung nicht möglich, da auf der Sandbank große Büschel von Seegras wuchsen, die auf beiden Seiten ein gutes Stück der Sicht nahmen.
Wieder hörten sie die raue Stimme hinter sich. »Jetzt ist keine Zeit, die verdammte Landschaft zu bewundern. Das Signal sagte, dass wir euch so schnell wie möglich hier wegbringen sollten. Wenn ihr jetzt nicht grade auf die Miliz warten wollt, dann sollten wir uns wirklich auf die Socken machen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«
Hawkwood merkte, wie der Mann ihn am Ärmel zog. Er wandte sich vom Wasser weg, nahm das Segeltuchbündel unter den Arm und folgte Isaac und Lasseur auf allen vieren, weg von der Grube und seinem grausigen Inhalt.
Es war mühsam. Hawkwood schätzte, dass sie vielleicht fünfzig Yards auf dem Bauch gekrochen waren, als das Gelände vor ihnen plötzlich offener wurde und sich vor ihnen ein Entwässerungsgraben auftat, der vielleicht sechs Schritt breit sein mochte und steile Seitenwände hatte. In seinem Bett floss ein etwa drei Fuß breites Rinnsal aus trübem braunem Wasser, gesäumt von Rohrkolben und schmalblättrigem Schilf.
Isaac nahm das Halstuch vom Gesicht, reichte es Hawkwood und deutete aufs Wasser. »Trinken kann man es nicht, aber vielleicht solltest du langsam dran denken, dich ein bisschen zu waschen. Aber mach schnell.«
Hawkwood tauchte das Halstuch ins Wasser und wusch sich das Blut vom Gesicht, dann reichte er es Lasseur. Das Wasser war warm und roch nach Torf und mehr als einem Hauch Dung. Hawkwood mochte gar nicht daran denken, was noch alles darin liegen mochte, aber alles war besser als der Gestank in der Grube.
»Sie sagten, Sie hatten ein Signal bekommen«, sagte Hawkwood, der sich daran erinnerte, dass Murat das gleiche Wort benutzt hatte. »Was war das für ein Signal?«
Er merkte, dass der Mann ihn überrascht ansah.
»Sie klingen nicht wie’n Froschfresser«, sagte Isaac.
»Ich bin auch keiner.«
»Ihr Englisch ist verdammt gut. Was sind Sie dann? Holländer?«
»Amerikaner.«
»Ein Yankee?« Isaac machte große Augen. »Heiliger Bimbam, dann sind Sie aber weit weg von zu Hause.«
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