Lasseur war blass geworden. Entsetzt sah er Hellard an. »Ist das wahr?«
Hellard zuckte die Schultern. »Vielleicht ist es nur eine Geschichte, und der Kerl versuchte, seine eigene Haut zu retten, indem er seine Kameraden anschwärzte. Er wird zusammen mit den anderen an der Rahe hängen.«
Sarazin war der, der auf Cabrera und in Millbay gewesen war, erinnerte Hawkwood sich.
»Also«, unterbrach Hellard die gespannte Stille, die eingetreten war, »somit bleibt die Frage: Was soll ich mit Ihnen beiden machen?«
»An der Rahe ist reichlich Platz«, sagte Thynne, dann fügte er leiser hinzu, »aber wenn Sie mich fragen, Aufhängen ist zu gut für diese Schufte.«
Hellard erhob sich.
Als der Leutnant hinter dem Schreibtisch hervortrat, bildete sich ein Knoten in Hawkwoods Magen. Zuerst schien es eine gute Idee, sich mit Lasseur zu verbünden, in der Hoffnung, dass dessen Entschlossenheit zur Flucht ihm eine organisierte Route zeigen würde. Und jetzt, nur weil der Privateer einen Rachefeldzug vom Zaun brechen musste, um einen Schiffsjungen zu retten, der noch nass hinter den Ohren war, und weil er selbst sich von einem völlig irrationalen Pflichtgefühl hatte hinreißen lassen, hatte sein Auftrag sich zerschlagen und lag in Scherben vor seinen Füßen.
Hellard spitzte die Lippen. Es sah sehr beunruhigend aus, als würde er Thynnes Vorschlag ernsthaft erwägen.
Thynne, der am Fenster stand, intonierte wieder: »Die Vorschrift sagt …«
»Danke, Herr Leutnant«, schnitt Hellard ihm das Wort ab, ohne sich umzudrehen. »Die Vorschrift ist mir bekannt.«
Thynne wurde rot. Hawkwood sah, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte. Man konnte den bitteren Blick nicht übersehen, mit dem er den Rücken seines Commanders bedachte. Hawkwood ahnte, dass Hellards Abfuhr nicht der einzige Grund war. Die Feindschaft ging tiefer, und es war Hellard anzumerken, dass sie auf Gegenseitigkeit beruhte. Hawkwood fragte sich, was die Ursache sein könnte. Es konnte eine ganze Reihe von Gründen haben, obwohl man nach den wiederholten Hinweisen auf die Vorschriften ahnen konnte, dass Thynne sich für den besseren Offizier hielt und vermutlich glaubte, dass er eigentlich hier das Kommando führen sollte.
Hawkwood ging es durch den Kopf, was für eine Vorgeschichte Thynne wohl haben mochte. Genau wie die Armee brauchte auch die Navy ihre besten Männer an der Front. Kompetente Offiziere wurden nicht beauftragt, heruntergekommene Hulks in irgendwelchen Nebengewässern zu befehligen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Irgendwo musste auch auf Thynnes Weste ein Schmutzfleck sein, genau wie bei Hellard. Entweder das, oder Thynne hatte absichtlich versucht, dem Schlachtenlärm zu entgehen, indem er sich weitab vom Schuss die Stelle eines Commanders sicherte, nur um festzustellen, dass hier bereits ein in Ungnade gefallener Offizier von gleichem Rang, aber älter als er selbst, die Befehlsgewalt hatte. Hawkwood musste zugeben, dass diese zweite Version eher unwahrscheinlich war. Tatsache war, die beiden Leutnants waren sich nicht grün, was immer auch der Grund sein mochte.
Hellard sagte: »Nach den Aussagen des Gefangenen Fouchet und nach Ihren eigenen Aussagen neige ich dazu, im Zweifel für die Angeklagten zu entscheiden und Ihnen zu glauben, dass Sie aus Sorge um den Jungen gehandelt haben. Die Bekanntschaft mit dem Henker wird Ihnen erspart bleiben.«
»Sir?« Thynne trat einen Schritt vor. »Allerdings«, Hellard hielt die Hand hoch und Thynne blieb stehen, »der Tod von Matisse und seinen Leuten darf nicht - und wird auch nicht - ohne Strafe bleiben. Das wäre wirklich gegen die Vorschriften und es wäre nachlässig von mir, wenn ich Sie nicht angemessen bestrafen würde. Die Admiralität würde nichts anderes erwarten. Meine Entscheidung wird auch davon beeinflusst, dass Sie sich durch Ihre Tat hier einen gewissen Ruf erworben haben. Ich vermute, es gibt bereits Leute, die Ihnen am liebsten den Königsmantel des Korsen umhängen würden. Das wäre natürlich völlig inakzeptabel. Deshalb werden Sie beide auf das Gefängnisschiff Samson verlegt werden, das im Augenblick vor Gillingham liegt.«
Lasseur atmete scharf durch.
Diese Reaktion war verständlich. Jeder Gefangene auf der Rapacious hatte schon von der Samson gehört, egal wie lange er an Bord war. Es war ein Schiff, auf das Gefangene kamen, die als Unruhestifter galten. Den Gerüchten zufolge waren die Bedingungen auf der Samson so schlimm, dass die Rapacious dagegen eine Gartenparty war.
»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie zusammen mit den anderen aufhängte, Captain?«, sagte Hellard.
Ein süffisantes Lächeln erschien auf Thynnes Gesicht.
Lasseur antwortete nicht. Sein Gesicht war wie versteinert.
»Leider werden Sie nicht sofort verlegt werden können«, sagte Hellard. »Ich habe Nachricht, dass es an Bord der Samson einen Zwischenfall gegeben hat. Einige der Gefangenen haben versucht, mit einem Aufstand gegen ihre Verpflegung zu protestierten. Der Commander gab den Befehl, auf die Demonstranten zu schießen, und eine Anzahl von ihnen wurde getötet. Es wird eine Weile dauern, bis sich die Lage wieder beruhigt hat. Ich bin nicht unmenschlich. Die Gefängniszellen sind alle voll, und es wäre unklug, Sie mit den restlichen von Matisses Gefolgsleuten zusammenzulegen. Deshalb werden Sie zunächst unter Bewachung im Krankenrevier bleiben, wo sich der Arzt wenigstens um Ihre Verletzungen kümmern kann. Ich empfehle, dass Sie diese Gelegenheit zum Nachdenken benutzen. Für Sie, Captain Hooper, bedeutet dieses Debakel natürlich, dass Ihr Antrag auf Hafterleichterung zurückgezogen wurde. Wie ich höre, sollten Sie demnächst eine Anhörung haben. Diese ist nun auf unbestimmte Zeit vertagt und hängt von der Beurteilung Ihres künftigen Verhaltens ab. Ich vermute, es wird lange dauern, ehe einer von Ihnen seine Heimat wiedersieht, wofür Sie sich selbst zu danken haben.« Hellard nickte den Wachen zu. »Das wäre alles. Bringt sie zurück.«
»Vielleicht hätten sie uns doch zerlegen und an die Krabben verfüttern sollen«, sagte Lasseur düster.
»Das wäre jedenfalls besser, als an die Rafalés verfüttert zu werden«, sagte Hawkwood. Er fühlte etwas Warmes und Feuchtes an seiner Seite. Seine Wunde hatte wieder angefangen zu nässen.
»Glauben Sie wirklich, was Murat uns erzählt hat?«, fragte Lasseur.
»Schon möglich«, sagte Hawkwood. »Es heißt ja, dass man wahnsinnig wird, wenn man Menschenfleisch isst. Und unter denen hier gibt es wirklich Wahnsinnige.«
Lasseur schwieg. Schließlich sagte er leise: »Vor vielen Jahren, als ich dritter Maat auf einem Schoner im Südchinesischen Meer war, entdeckten wir eines Tages ein treibendes Rettungsboot. An Bord waren vier Männer, von denen drei gerade noch halbwegs am Leben waren. Der vierte war tot. Seine Leiche war ziemlich verstümmelt. Zwei der Überlebenden starben, der dritte erholte sich. Er sagte, dass Seevögel die Leiche des vierten Mannes verstümmelt hatten, aber niemand glaubte ihm. Wir waren sicher, dass er und die anderen von ihm gegessen hatten, um nicht zu verhungern. Warum hatten sie die Leiche sonst nicht gleich über Bord geworfen? Als der letzte Überlebende endlich wieder gehen konnte, band er sich ein Stück Kette um und stürzte sich über Bord. Wir nahmen an, dass er es aus Reue tat, weil er Menschenfleisch gegessen hatte. Entweder das, oder er war tatsächlich wahnsinnig geworden.« Lasseur unterbrach sich, dann murmelte er: »Ich habe gehört, es soll wie Huhn schmecken.«
»Ich habe mir sagen lassen, es schmeckt wie Schweinefleisch«, sagte Hawkwood.
Lasseur schüttelte sich und verfiel in Schweigen. Nach einer Weile sagte er: »Aber wie haben Matisse und seine Männer die Verluste vertuscht? Es müsste doch beim Appell aufgefallen sein, dass jemand fehlte. Wie haben sie es geschafft, dass es beim Zählen niemand bemerkt hat?«
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