»Mein Gott!«, entfuhr es Lasseur, doch dann sagte er nachdenklich: »Eigentlich kann man es ihnen nicht verdenken. Ich bezweifle, dass auch nur einer diesen Mistkerlen nachtrauern wird.«
Der Arzt zog die Brauen hoch. »Ich habe gehört, man hat Sie und den Captain für eine Heiligsprechung vorgeschlagen.«
»Dann ist es kein Wunder, dass der Leutnant uns loswerden will«, prustete Lasseur los. »Wann soll die Hinrichtung sein?«
»Bei Sonnenaufgang.«
»Dann beten wir mal um gutes Wetter«, sagte Lasseur. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Sébastien!«
Hawkwood und Girard drehten sich um.
Der Lehrer kam angehinkt. Er trug zwei Blechnäpfe und zwei Löffel. »Ich habe Ihnen etwas vom Abendessen aufgehoben. Ich dachte mir, dass Sie vielleicht hungrig sind.«
»Solange es kein Hering ist«, sagte Lasseur und verzog das Gesicht. »Sonst würde ich anfangen zu kotzen, wie diese anderen armen Teufel hier.«
»Brot, Kartoffeln und etwas Schweinefleisch.« Fouchet reichte ihnen die Näpfe. »Viel ist es nicht.«
Lasseur beäugte den Inhalt misstrauisch. »Sind Sie auch ganz sicher, dass es Schweinefleisch ist?« Er sah Hawkwood an.
»Es könnte auch Hammelfleisch sein«, sagte Fouchet mit zusammengezogenen Brauen. »Was für einen Tag haben wir heute?«
»Vielleicht esse ich nur die Kartoffeln«, sagte Lasseur.
»Ich glaube, es ist okay«, sagte Fouchet. »Soweit wir wissen, hat Matisse lange niemanden mehr umgebracht.«
»Dann haben Sie also davon gehört?«, sagte Hawkwood.
Fouchet nickte. »Es ist auf dem ganzen Schiff herum.«
Lasseur starrte trübsinnig auf seinen Essnapf. »Was ist eigentlich mit Juvert passiert?«
»Der sitzt im schwarzen Loch bei den Ratten und leckt seine Wunden. Nach einer Woche dort unten frisst er seine eigene Scheiße.« Ohne eine Spur von Mitleid zu zeigen deutete der Lehrer auf das Essen. »Wenn Sie jetzt nicht essen wollen, dann heben Sie es für später auf.«
Lasseur stellte den Blechnapf hin.
»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte Girard. »Ich muss mich um meine Patienten kümmern. Aber Sie sollten essen, um bei Kräften zu bleiben.« Er nickte Fouchet zu, zog den mit Essig getränkten Lappen aus dem Hosenbund und ging durch die Reihen der Pritschen davon.
Fouchet sah ihm nach, dann legte er seine Hand auf Hawkwoods Arm. »Sagen Sie mir, dass der Junge nicht leiden musste.«
»Es ging sehr schnell«, sagte Hawkwood. »Das ist leider das einzig Gute, was sich darüber sagen lässt.«
Die Gesichtszüge des Lehrers erschlafften. »Er wäre noch am Leben, wenn ich besser auf ihn aufgepasst hätte«, sagte er traurig.
»Der Junge wurde von Matisse getötet, Sébastien«, sagte Lasseur. »Nicht von Ihnen.«
Fouchet sah auf Hawkwoods blutgetränkte Verbände. »Ich wäre gern dabei gewesen, als Sie das Schwein umgebracht haben.«
»Wenn Sie dabei gewesen wären, wären wir jetzt nicht hier«, sagte Hawkwood. »Wenn Sie die Wachen nicht alarmiert hätten, hätte man uns eimerweise durch die Latrinenöffnungen gekippt … oder noch schlimmer.«
»Und jetzt sollen Sie auf die Samson verlegt werden«, sagte Fouchet unglücklich.
»Besser, als an der Rahe zu baumeln«, sagte Lasseur.
»Vielleicht denken Sie anders darüber, wenn Sie erst dort sind.«
Habe ich dieses Gespräch nicht schon einmal geführt?, dachte Hawkwood.
»Ich habe gehört, auf der Samson soll es vor einem Monat eine Revolte mit mehreren Toten gegeben haben«, sagte Fouchet. »Zwei Mann kamen ins schwarze Loch. Nur einer kam lebend wieder heraus.«
»Woher die diese Idee wohl haben?« Lasseur lächelte mühsam.
Fouchet beugte sich vor. »Charbonneau hörte, wie sich zwei Milizionäre unterhielten. Die Briten glauben, dass die Revolte auf der Samson Teil eines Komplotts ist, durch das alle Kriegsgefangenen in England zu einem Aufstand aufgewiegelt werden sollen.«
Lasseur kaute an seiner Lippe.
»Das wird sie das Fürchten gelehrt haben.«
Fouchet zuckte die Schultern. »Man kann ihr Dilemma verstehen. Einerseits hält die Admiralität es für richtig, alle Unruhestifter zusammen an einem Ort unterzubringen, aber gleichzeitig wissen sie, was für ein Risiko sie damit eingehen. Zusammenstöße unter den Gefangenen machen ihnen nichts aus; das ist für sie nichts weiter als ein Keulen der Bestände. Aber ein solch geballtes Gewaltpotenzial könnte auch für das britische Personal ein unnötiges Risiko bedeuten.«
»Dann sind zwei Neue das Letzte, was sie brauchen«, sagte Lasseur. »Kein Wunder, dass sie das erst mal aufschieben. Langsam frage ich mich, warum Commander Hellard uns nicht auch zum Strang verurteilt hat.«
»Weil es genau das war, was sein Stellvertreter wollte«, sagte Hawkwood. »Leutnant Thynne hält den Commander für nicht fähig auf diesem Posten. Hellard wiederum glaubt, Thynne hätte den Job gern selbst. Ich würde sagen, wir verdanken der Dickköpfigkeit von Commander Hellard unser Leben.«
»Dann haben wir Glück gehabt, dass es nicht anders herum war«, sagte Lasseur, »und dass es nicht Thynne war, der ein mildes Urteil verlangte.«
»Amen«, sagte Hawkwood.
Draußen wurde etwas gerufen. Eine Glocke ertönte.
»Zapfenstreich«, sagte Fouchet. »Ich muss gehen.«
Hawkwood sah zum Gitter. Das letzte Tageslicht war verschwunden. Die einzige Beleuchtung kam von den Laternen, die an den Balken hingen.
Der Lehrer nahm ihre Hände und sah sie ernst an. »Ich bin sehr froh, dass Sie leben, meine Freunde. Ich werde Ihr Eigentum an mich nehmen und dafür sorgen, dass niemand sich daran vergreift.« Er lächelte. »Wahrscheinlich würde es sowieso niemand wagen. Sie haben sich hier einen ziemlichen Ruf erworben.«
»Trotzdem zweifle ich nicht daran, dass Murat unsere Schlafplätze sofort an zwei Neuankömmlinge verkaufen wird«, sagte Lasseur bitter. »Wollen wir wetten, dass er sich unseren Ruf zunutze macht? ›Hier schliefen die Captains Lasseur und Hooper. Deshalb kostet es jetzt zehn Francs mehr, und vielen Dank auch‹.«
Hawkwood musste wider Willen grinsen.
»Sie sollten den Leutnant nicht zu hart beurteilen, Captain«, sagte Fouchet ernst. »In dieser Situation versuchen wir doch alle zu überleben, so gut wir können.«
»Und manche überleben besser als andere«, sagte Lasseur.
Fouchet drohte mit dem Finger. »Ich muss jetzt weg, sonst komme ich noch ins Loch, weil ich die Sperrstunde nicht eingehalten habe. An Ihrer Stelle würde ich jetzt versuchen zu schlafen. Morgen müssen wir früh raus.«
»Müssen wir?«, sagte Lasseur. »Wieso?«
»Hat es sich noch nicht bis zu Ihnen herumgesprochen?«, sagte Fouchet trocken. »Morgen früh findet die Hinrichtung statt.«
Es gab keinen Galgen.
Vom Großmast in zwei gleiche Hälften geteilt, hob sich die Rahe gegen den Morgenhimmel ab wie die Arme einer Vogelscheuche. Auf der Backbord- und Steuerbordseite hingen jeweils drei Holzblöcke. Durch jeden der Blöcke lief ein Seil, an dessen einem Ende eine Schlinge war. Das andere Ende des Seiles war auf Backbord und Steuerbord mit einer Klampe am Schanzkleid befestigt.
Eine Reihe von Milizionären mit aufgepflanzten Bajonetten bewachte die Reling. Die restliche Besatzung hatte auf dem Quarterdeck Aufstellung genommen. Leutnant Hellards Gesicht war ernst, er hatte den ebenso ernst blickenden Thynne auf seiner Rechten und den Dolmetscher Murat auf der linken Seite. Die Männer hatten die eben aufgegangene Sonne im Rücken. Beide Offiziere trugen volle Uniform. Ihnen gegenüber auf Backbord stand eine Reihe von Gefangenen, einige in gelber Gefängniskluft, einige in Zivil. Erst hatte Hawkwood gedacht, es handle sich um die Verurteilten. Doch bei näherem Hinsehen und nachdem er sie gezählt hatte, musste er feststellen, wie klug Hellard gehandelt hatte. Es waren die Mitglieder des Gefangenentribunals.
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