Heute, fünfundzwanzig Jahre nachdem der letzte Lagonda zum Tor hinausgerollt war, war das Gebäude, wie das ausrangierte Geschirr in einem Dienstbotentrakt, in einen altersschwachen Zustand des Verfalls übergegangen. Dahinter, zwischen dem ehemaligen Ausstellungsraum und dem verwaisten Treidelpfad längs des Flusses, duckte sich ein Labyrinth verfallener Nebengebäude ins hohe Gras wie Grabsteine um eine Dorfkirche. Mehrere dieser Gebäude, die noch nicht mal einen richtigen Fußboden hatten, beherbergten den Überschuss an Büchern aus dem längst vernichteten, viel grö ßeren georgianischen Vorgängerbau. Nun boten die provisorischen, schlecht beleuchteten Baracken, in denen sich einst die Reparaturwerkstätten des Autohauses befunden hatten, reihenweise ungewollten Büchern Platz, auf deren Rücken man
Daran dachte ich, als ich vor dem Eingang stand und am Türknauf drehte.
»Scheibenkleister!«, entfuhr es mir. Es war abgeschlossen.
Erst als ich beiseitetrat, um durchs Fenster zu spähen, erblickte ich das Schild hinter der Scheibe, auf das jemand mit schwarzem Stift »Geschlossen« gekritzelt hatte.
Geschlossen? Heute war Samstag! Die Bücherei war donnerstags bis samstags von 10 bis 14.30 Uhr geöffnet. So stand es auch unmissverständlich auf dem schwarz gerahmten Schild an der Tür. War Miss Pickery etwas zugestoßen?
Ich rüttelte erst an der Tür, dann trommelte ich mit der Faust dagegen. Schließlich legte ich die Hände noch einmal an die Scheibe und spähte hindurch, aber bis auf einen einsamen Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die Staubflusen bahnte, ehe er sich auf den Regalen mit den Romanen niederließ, war nichts zu erkennen.
»Miss Pickery!«, rief ich, bekam aber keine Antwort.
»Scheibenkleister!«, schimpfte ich noch einmal. Dann würde ich meine Recherchen wohl auf ein anderes Mal verschieben müssen. Als ich dort in der Cow Lane vor verschlossener Tür stand, kam mir der Gedanke, dass die Büchereien im Himmel bestimmt rund um die Uhr offen hatten, und das sieben Tage die Woche.
Nein … acht Tage die Woche!
Miss Pickery wohnte in der Shoe Street. Ich ließ mein Fahrrad vor der Bücherei stehen und nahm eine Abkürzung. Wenn Dreizehn Erpel entlangging, kam man gleich neben ihrem Häuschen heraus.
Ich stapfte durch das hohe, nasse Gras und gab Acht, dass ich nicht über irgendwelche rostigen Maschinenteile stolperte, die hier und da wie Dinosaurierknochen in der Wüste Gobi aus dem Boden ragten. Daphne hatte mich über Wundstarrkrampf aufgeklärt. Ein Kratzer von einem alten Autogetriebe, und mir würde im Handumdrehen Schaum vor dem Mund stehen, ich würde bellen wie ein Hund und mich beim Anblick von Wasser in Krämpfen auf dem Boden winden. Ich sammelte schon einmal probehalber Spucke in der Backe. Da hörte ich jemanden reden.
»Warum hast du ihn bloß reingelassen, Mary?« Es war die Stimme eines jungen Mannes. Sie kam aus dem Hof des Wirtshauses.
Ich huschte hinter einen Baum und spähte hinter dem Stamm hervor. Wer da gesprochen hatte, war Ned Cropper, der im Dreizehn Erpel alle möglichen Hilfsarbeiten verrichtete.
Ned! Nur an ihn zu denken, wirkte bei Ophelia wie eine Novokainspritze. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er Dirk Bogarde wie aus dem Gesicht geschnitten war, aber die einzige Ähnlichkeit, die ich persönlich feststellen konnte, bestand darin, dass sie alle beide je zwei Arme, zwei Beine und pfundweise Brillantine im Haar hatten.
Ned hockte vor der Hintertür des Wirtshauses auf einem Bierfass, und ein Mädchen, Mary Stoker, wie ich im Näherkommen erkannte, saß auf einem anderen. Sie sahen einander nicht an. Ned malte mit dem Stiefelabsatz ein verzwicktes Labyrinth auf den Boden, Mary hatte die Hände im Schoß gefaltet und starrte geradeaus.
Obwohl Ned die Stimme gesenkt hatte, konnte ich alles verstehen. Die verputzte Wand des Dreizehn Erpel wirkte wie ein Verstärker.
»Ich hab dir doch schon gesagt, Ned Cropper, dass mir nix
»Warum haste nicht geschrien? Ich weiß, dass du Tote aufwecken kannst … wenn dir danach ist.«
»Du kennst meinen Pa wohl nicht! Wenn er wüsste, was der Kerl gemacht hat, würd er mir das Fell über die Ohren ziehen!«
Sie spuckte in den Staub.
»Mary!« Der Ruf kam von drinnen, trotzdem dröhnte er durch den Hof wie Donnerhall. Der da rief, war Marys Vater, der Gastwirt Tully Stoker, und sein ungewöhnliches Organ spielte in einigen der skandalösesten Tratschgeschichten des Dorfes eine Hauptrolle.
»Mary!«
Jetzt sprang Mary auf.
»Komme schon!«, rief sie. »Bin schon unterwegs!«
Sie verharrte unschlüssig, dann stürzte sie sich mit einem Mal wie eine zustoßende Viper auf Ned, verpasste ihm einen schnellen Kuss auf den Mund und war im nächsten Moment mit flatternder Schürze - wie ein Zauberer mit wehendem Umhang - in der düsteren Schankstube verschwunden.
Ned blieb noch einen Augenblick sitzen, dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund, stand auf und rollte das Fass zu den anderen leeren Fässern auf die gegenüberliegende Hofseite.
Ich rief: »Tag, Ned!«, und er drehte sich halb verlegen um. Er überlegte unverkennbar, ob ich ihn und Mary belauscht und vielleicht sogar den Kuss beobachtet haben konnte. Ich beschloss, ihn im Unklaren zu lassen.
»Schönes Wetter heute, was?« Ich grinste ihn dümmlich an.
Ned erkundigte sich danach, wie es mir ging, und anschlie ßend, immer schön der Reihe nach, nach dem Befinden meines Vaters und dem von Daphne.
»Den beiden geht’s prima«, antwortete ich.
»Und wie geht’s Miss Ophelia?«, fragte er zu guter Letzt.
»Miss Ophelia? Na ja, um die machen wir uns ehrlich gesagt ziemlich Sorgen.«
Ned fuhr zusammen, als wäre ihm eine Wespe in die Nase gekrabbelt.
»Ach ja? Was hat sie denn? Hoffentlich nichts Ernstes.«
»Sie ist am ganzen Leib knallgrün geworden«, verkündete ich. »Ich vermute, sie hat Chlorose. Dr. Darby ist derselben Meinung.«
In seinem Wörterbuch der Vulgärsprache von 1811 nennt Francis Grose die Chlorose auch: »Liebesfieber« beziehungsweise »Jungfrauenkrankheit«. Mir war natürlich klar, dass Ned Captain Groses Werk nicht so geläufig war wie mir, und ich klopfte mir in Gedanken auf die Schulter.
»Ned!«
Tully Stokers Organ. Ned tat einen Schritt in Richtung Tür.
»Richte deiner Schwester aus, dass ich mich nach ihr erkundigt habe«, bat er.
Ich machte das Victory-Zeichen, wie einst der wackere Churchill. Das war ja wohl das Mindeste.
Wie die Cow Lane geht auch die Shoe Street von der Hauptstraße ab und führt zum Fluss hinunter. Miss Pickerys auf halber Höhe gelegenes Tudorhäuschen sah aus wie aus einer Abbildung vom Deckel einer Puzzleschachtel. Mit seinem Strohdach und den weiß getünchten Wänden, den rautenf örmig bleiverglasten Fenstern und der rot gestrichenen quergeteilten Tür ließ es jedes Künstlerherz höherschlagen. Die Fachwerkwände ragten wie ein malerisches altes Schiff aus einem Meer altmodischer Blumen: Anemonen, Stockmalven, Levkojen, Glockenblumen und andere, von denen ich nicht wusste, wie sie hießen.
Miss Pickerys rotbrauner Kater Roger aalte sich auf der
»Bist ein ganz Braver, Roger«, sagte ich. »Wo ist denn Miss Pickery?«
Roger schlenderte davon und hielt nach etwas Spannenderem Ausschau. Ich klopfte. Niemand öffnete.
Ich ging ums Haus herum in den Garten. Keiner da.
Als ich auf der Hauptstraße entlangging und, nachdem ich im Schaufenster der Apotheke flüchtig die immer gleichen mit Fliegendreck beklecksten Glasgefäße betrachtet hatte, gerade die Cow Lane überquerte, blickte ich zufällig nach links und sah jemanden in der Bücherei verschwinden. Mit ausgebreiteten Armen flog ich eine Steilkurve und bog in die Gasse ein, aber als ich vor der Bücherei stand, war der Betreffende längst im Haus verschwunden. Ich drehte am Türknauf, und diesmal hatte ich Erfolg.
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