Bis dahin brauchte ich eine Bleibe. Während der Bus hinunter nach Harrogate gondelte, faßte ich meinen Plan. Der Nordosten mußte es sein, da wo Humbers Pferde liefen. Eine große Stadt, in der ich anonym sein konnte. Eine lebhafte Stadt, damit mir die Zeit zwischen den Renntagen nicht lang wurde. Mit Hilfe der Straßenkarten und Reiseführer in der Stadtbibliothek Harrogate entschied ich mich für Newcastle, und dank zweier hilfsbereiter Fernfahrer kam ich am Spätnachmittag dort an und nahm mir ein Zimmer in einem billigen Hotel.
Es war ein schreckliches Zimmer mit kaffeebrauner Tapete, die sich von den Wänden löste, brüchigem, gemustertem Linoleum am Boden, einer harten, schmalen Liege und verkratzten Möbeln aus gebeiztem Furnierholz. Nur seine unerwartete Sauberkeit und ein nagelneues Waschbecken in der Ecke machten es erträglich, doch ich mußte zugeben, daß es meiner äußeren Erscheinung und meinen Zwecken bestens entsprach.
Ich aß gebackenen Fisch mit Pommes frites für drei Shilling sechs, ging ins Kino und genoß es, weder drei Pferde versorgen noch jedes Wort, das ich sagte, abwägen zu müssen. Die wiedergewonnene Freiheit war so wohltuend, daß meine Stimmung sich erheblich besserte und ich sogar den Ärger mit October vergaß.
Am nächsten Morgen schickte ich ihm per Einschreiben die zweiten fünfundsiebzig Pfund, die ich ihm bei unserem
Treffen am Sonntag nicht übergeben hatte, zusammen mit einem förmlichen Brief, in dem ich kurz erklärte, warum erst einige Zeit verstreichen sollte, bevor ich bei Humber anfing.
Von der Post aus ging ich in ein Wettbüro und schrieb mir die Rennveranstaltungen der nächsten Wochen heraus. Es war Anfang Dezember, und vor der ersten Januarwoche standen im Norden nur wenige Rennen an — vertane Zeit aus meiner Sicht und ärgerlich. Nach dem Renntag in Newcastle am kommenden Sonnabend fanden nördlich von Nottinghamshire bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag, über vierzehn Tage später, keine Rennen mehr statt.
Ungeachtet dieses Rückschlags begab ich mich auf die Suche nach einem zünftigen gebrauchten Motorrad. Erst am späten Nachmittag fand ich genau das, was mir vorschwebte, eine vier Jahre alte, frisierte 500-cc-Norton aus der Hand eines jetzt einbeinigen jungen Mannes, der auf dem schnellen Weg nach Norden einmal zu oft Gas gegeben hatte. Der Verkäufer erzählte mir die Geschichte gut gelaunt, während er mein Geld nahm, und versicherte mir, die Maschine schaffe auch jetzt noch 160 Stundenkilometer. Ich bedankte mich höflich und ließ sie bei ihm stehen, weil sie noch einen neuen Auspufftopf sowie neue Handgriffe, Bremskabel und Reifen bekommen sollte.
In Slaw war ich ganz gut ohne eigenes Fahrzeug ausgekommen, und über meine Beweglichkeit in Posset würde ich mir auch keine Gedanken gemacht haben, hätte mir nicht eine warnende Stimme dauernd gesagt, daß ich es vielleicht einmal ratsam finden könnte, mich schnell davonzumachen. Der Journalist Tony Stapleton ging mir nicht aus dem Kopf. Zwischen Hexham und Yorkshire hatte er acht Stunden verloren und den Tod gefunden. Zwischen Hexham und Yorkshire lag Posset.
Der erste, den ich vier Tage darauf in Newcastle beim Pferderennen sah, war der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart, der mir einen Dauerposten als Stallspion angetragen hatte. Er stand unauffällig in einer Ecke am Eingang und redete mit einem großohrigen Jungen, den ich später ein Pferd aus einem landesweit bekannten Wettstall herumführen sah.
Aus einiger Entfernung beobachtete ich, wie er dem Jungen ein weißes Kuvert gab und ein braunes dafür in Empfang nahm. Gekaufte Informationen, dachte ich, und bezahlt vor aller Augen, als wäre nichts dabei.
Ich schlenderte hinter Schwarzem Schnurrbart her, als er nach der Transaktion in den Buchmacherring ging. Wieder sah es aus, als studierte er nur die Quoten für das erste Rennen, und wie schon einmal setzte ich ein paar Shilling auf den Favoriten, falls jemand aufgefallen war, daß ich dem Schnurrbärtigen folgte. Der legte trotz seines Kursvergleichs keine Wette an, sondern ging an die Absperrung, die den Ring von der eigentlichen Bahn trennte. Dort blieb er wie zufällig neben einer künstlich rothaarigen Frau stehen, die eine Leopardenfelljacke über einem dunkelgrauen Rock trug.
Sie wandte ihm den Kopf zu, und sie sprachen miteinander. Nach einer Weile zog er das braune Kuvert aus der Brusttasche und legte es in ein Rennprogramm, das er Augenblicke später mit dem der Frau austauschte. Er entfernte sich von den Rails, während sie das Rennprogramm mit dem Kuvert in einer großen, glänzendschwarzen Handtasche verstaute. Im Schutz der letzten Buchmacherreihe beobachtete ich, wie sie das Clubhaus betrat und auf den Rasen vor der Mitgliedertribüne ging. Dorthin konnte ich ihr nicht folgen, doch von der Haupttribüne aus sah ich, wie sie durch den nächsten Tribünenabschnitt wanderte. Man schien sie zu kennen. Sie unterhielt sich mit ver-schiedenen Leuten — einem gebückten alten Herrn mit Schlapphut, einem fettleibigen jungen Mann, der ihr wiederholt den Arm tätschelte, zwei Damen in Nerz, einer Gruppe von drei Männern, die schallend lachten und mir die Sicht verstellten, so daß ich nicht mitbekam, ob sie einem von ihnen das braune Kuvert übergeben hatte.
Die Pferde kamen auf die Bahn, und die Zuschauer zogen auf die Tribüne, um sich das Rennen anzusehen. Die Rothaarige verschwand im Gewühl auf der Mitgliedertribüne, aber ich konnte es nicht ändern. Das Rennen begann, und der Favorit gewann leicht mit zehn Längen. Das Publikum feierte ihn. Ich blieb stehen, wo ich war, während die Leute ringsum von der Tribüne strömten, und wartete, ohne mir allzuviel Hoffnung zu machen, ob die rothaarige Leopardenfrau nicht noch einmal auftauchte.
Und da war sie. In der einen Hand hielt sie ihre Tasche, in der anderen das Rennprogramm. Diesmal wechselte sie ein paar Worte mit einem kleinen dicken Mann, bevor sie zu den Buchmachern herüberkam, die nicht weit von mir an der Absperrung zwischen dem Ring und den Mitgliederplätzen standen. Jetzt erst sah ich deutlich ihr Gesicht; sie war jünger, als ich angenommen hatte, und nicht so hübsch; ihre oberen Zähne standen auseinander.
Mit schneidender, blecherner Stimme sagte sie:»Ich möchte bezahlen, Bimmo«, zog ein braunes Kuvert aus ihrer Handtasche und reichte es einem kleinen Mann mit Brille, der auf einer Kiste neben einer Tafel mit der Aufschrift BIMMO BOGNOR, GEGR. 1920, MANCHESTER UND LONDON stand.
Mr. Bimmo Bognor nahm das Kuvert und steckte es mit einem kernigen» Man dankt«, das an mein gespitztes Ohr drang, in seine Jackentasche.
Ich verließ die Tribüne und holte mir meinen kleinen Wettgewinn und wußte nur, daß die Rothaarige Bimmo Bognor ein Kuvert übergeben hatte, das so aussah wie dasjenige, das Schwarzer Schnurrbart von dem großohrigen Pfleger bekommen hatte, aber nicht, ob es dasselbe war. Sie konnte das Kuvert des Pflegers einem der Leute zugesteckt haben, mit denen ich sie hatte reden sehen, oder sonst jemandem auf der Tribüne, als sie mir aus den Augen geraten war, und hatte dann vielleicht ganz ehrlich ihren Buchmacher bezahlt.
Um die Kette genau zu verfolgen, schien es mir das beste, eine dringende Nachricht auf den Weg zu schicken — so dringend, daß kein langes Hin und Her entstand, sondern eine direkte Verbindung von A nach B und von B nach C hergestellt wurde. Da Sparking Plug im fünften Rennen antrat, stellte die dringende Nachricht kein Problem dar; um aber Schwarzen Schnurrbart genau im richtigen Moment abzupassen, mußte ich ihn den ganzen Nachmittag im Auge behalten.
Zum Glück war er ein Gewohnheitstier. Er schaute immer von der gleichen Tribünenecke aus den Rennen zu, ging zwischendurch immer in die gleiche Bar und stand unauffällig am Eingang zum Geläuf, wenn die Pferde aus dem Führring kamen. Er wettete nicht.
Humber hatte zwei Starter, einen im dritten und einen im letzten Lauf, und obwohl ich mein Hauptanliegen damit bis zum späten Nachmittag beiseite schob, ließ ich das dritte Rennen verstreichen, ohne mich nach seinem Reisefuttermeister umzusehen. Statt dessen blieb ich in einer gewissen Entfernung hinter dem Schwarzen Schnurrbart.
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