Dick Francis
Schnappschuß
Ich erwachte mit einer bösen Vorahnung. Unwillkürlich schloß sich meine Hand um die Parabellum unter meinem Kopfkissen. Ich lauschte gespannt. Kein Geräusch. Kein verdächtiges Rascheln, kein Reiben von Tuch auf Tuch, kein halbunterdrücktes, schnelles Atmen. Kein lauernder Feind. Langsam entspannte ich mich, drehte mich um und blinzelte in das Zimmer. Ein ruhiges, leeres, häßliches Zimmer. Ein Drittel dessen, was ich in Ermangelung eines weniger anheimelnden Wortes mein >Heim< nannte.
Heller Sonnenschein drang durch die dünnen rosa Gardinen und malte einen goldenen Farbfleck auf den verblichenen braunen Plüschteppich. Ich mag Rosa nicht. Aber mir fehlte andererseits auch die Energie, meinen Hausherrn davon zu überzeugen, daß Blau besser paßte. Nach acht Monaten wußte ich, daß er niemals etwas erneuerte, ehe es in Stücke fiel.
Trotz der herrschenden Stille vertiefte sich das Gefühl einer Vorahnung, wurde deutlicher und löste sich dann in eine weniger bedrohliche, aber düstere Allgemeinstimmung auf. Sonntagmorgen. Der 20. Juli. Für mich der Beginn eines dreiwöchigen Urlaubs.
Ich drehte mich auf den Bauch, verschloß meine Augen vor dem Sonnenschein und entfernte meine Hand zwanzig Zentimeter von der Parabellum. Das reichte. Ich fragte mich, wie lange ein Mensch wirklich schlafen kann, wenn er es sich fest genug vornimmt. Gar noch ein Mann, der auch sonst nie tief schläft. Drei Wochen, die längst überfälligen drei Wochen Pflichturlaub, ließen sich mit viel Schlafen leichter überstehen.
Jahrtausende Schlaf lagen unter meinem Kopfkissen: der Neunmillimeter-Gleichmacher, mein unzertrennlicher Freund. Er begleitete mich überallhin, zum Strand, ins Bad, auch in
Betten, die nicht mir gehörten. Er war dazu da, mir das Leben zu retten, nicht es mir zu nehmen. Ich hatte so manche Versuchung durchgestanden und auch das geschafft.
Das Klingeln des Telefons erledigte das Problem der drei Wochen, noch ehe eine halbe Stunde davon vergangen war.
«Ja?«sagte ich verschlafen und balancierte den Hörer zwischen Ohr und Kopfkissen.
«Gene?«
«Mhm?«
«Sie sind also nicht verreist. «Sie klang sehr erleichtert, die Stimme meines Chefs. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn Uhr.
«Nein«, antwortete ich unnötigerweise. Er wußte, daß ich nicht verreisen wollte. Ich verstand seine Erleichterung nicht. Der eigenartige Unterton war verschwunden, als er weiterredete.
«Wie wär’s mit einem Tag auf der Themse?«
Er hatte ein Motorboot irgendwo auf dem Oberlauf der Themse liegen. Ich hatte es bisher nie zu Gesicht bekommen. War auch noch nie zu einer Themsefahrt eingeladen worden.
«Einladung oder Befehl?«fragte ich gähnend.
Er zögerte.»Das liegt an Ihnen.«
Was für ein Mensch! Man tat für ihn immer etwas mehr, als man eigentlich wollte.
«Wo und wann?«
«Meine Tochter holt Sie ab«, sagte er.»Sie ist in einer halben Stunde bei Ihnen. Reine Familienangelegenheit. Bootsdreß. Kommen Sie so, wie Sie gerade sind.«
«In Ordnung«, antwortete ich. So, wie ich bin — mit Stoppelbart, Parabellum und Shorts. Schlafanzüge trage ich nie. Die halten zu sehr auf.
Was war unter Bootsdreß zu verstehen? Ich entschied mich für eine graubraune Baumwollhose und ein olivgrünes Nylonsporthemd. Die Parabellum hatte ich in der rechten Hosentasche stecken, als es klingelte. Man kann nie wissen. Aber ein Blick durch den Weitwinkelspion an meiner Tür überzeugte mich davon, daß alles seine Richtigkeit hatte — es war Keebles Tochter, wie vereinbart. Ich öffnete ihr.
«Mr. Hawkins?«fragte sie zögernd. Ihr Blick wanderte zwischen mir und der bronzenen Sechs hin und her, die an dem massiven, dunkelgebeizten Holz aufgeschraubt war.
Ich lächelte.»Stimmt. Treten Sie ein.«
Sie ging an mir vorbei. Ich schloß die Tür und stellte interessiert fest, daß sie nach vier Treppen nicht wie die meisten meiner Besucher atemlos war. Genau aus diesem Grund wohnte ich nämlich so hoch oben.
«Ich trinke gerade meinen Kaffee aus«, sagte ich.»Möchten Sie eine Tasse?«
«Sehr nett von Ihnen, aber Dad hat gesagt, wir sollen uns beeilen. Er möchte so bald wie möglich den Fluß hinaufdampfen.«
Keebles Tochter sah in Wirklichkeit genauso aus wie auf dem Foto, das ihr Dad auf dem Schreibtisch stehen hatte. Halb Frau, halb Schulmädchen. Kurzes, dunkles Wuschelhaar, dunkle, wachsame Augen, eine an den richtigen Stellen gerundete, schlanke Figur, eine selbstbewußte Haltung, die deutlich sagte: Rühr mich nicht an! Dazu in der augenblicklichen Situation einen Anflug von liebenswerter Verlegenheit.
Sie schaute sich im Wohnzimmer vorsichtig um. Die Möbel, die mir mein Hausherr hereingestellt hatte, stammten wohl vom Trödler, und ich hatte mir auch keine Mühe gegeben, etwas daran zu verschönern. Mein Beitrag zum Mobiliar beschränkte sich auf zwei Regalreihen Bücher und den Blechkasten in der Ecke, in dem ich allen möglichen Kram verwahrte. Ich hatte das Zeug noch nicht einmal ausgepackt. Der zurückgezogene Vorhang enthüllte die Küche samt Inhalt: Schrank, Kühlschrank, Spüle und Kochstelle. Jedem einzelnen Stück sah man deutlich sein Alter an.
Durch das Wohnzimmer gelangte man ins Schlafzimmer, von da ins Bad und vom Bad auf die Feuertreppe. Der Wohnung fehlte eigentlich nur noch eine Zugbrücke und ein Burggraben. Ich hatte wochenlang gesucht, bis ich so etwas fand. Nur der Spion an der Tür fehlte. Der Hausbesitzer war wütend, als er merkte, daß ich ihn eingebaut hatte. Ich mußte drei Monatsmieten im voraus bezahlen, um ihn davon zu überzeugen, daß der Spion nicht nur dem Zweck diente, mich vor seinem Besuch rechtzeitig zu warnen.
Ich beobachtete Keebles Tochter. Sie bemühte sich krampfhaft, mir ein nettes Wort über meine Wohnung zu sagen. Als ihr nichts einfiel, schüttelte sie resigniert ihren jungen Kopf. Ich hätte ihr sagen können, daß ich früher einmal eine schönere Wohnung hatte, geräumig, bequem, im ersten Stock, mit Balkon und Blick auf einen baumbestandenen Platz. Aber es hatte sich herausgestellt, daß sie für unerwünschte Besucher zu leicht erreichbar war. Ich war auf einer Tragbahre ausgezogen.
«Ich hole nur eben meine Jacke«, sagte ich und trank den letzten Schluck Kaffee aus.»Dann können wir!«
Sie nickte erleichtert. Die Leere meines Privatlebens schien sie zu bedrücken. Fünf Minuten waren ihr mehr als genug.
Ich ging ins Schlafzimmer, nahm das Jackett vom Bett und beförderte meine Pistole aus der Hosentasche ins eingebaute Schulterhalfter. Dort befestigte ich sie mit einem Druckknopf am Gurt. Mit der Jacke über dem Arm stellte ich die schmutzige Kaffeetasse in die Spüle, zog den Küchenvorhang zu, öffnete die Tür und schloß sie hinter Miss Keeble und mir gewissenhaft ab.
Auf der Treppe geschah nichts. Vier Stockwerke tiefer traten wir auf die sonnenbeschienene Putney Street hinaus. Miss Keeble schaute sich nach den alten, soliden, notdürftig umgebauten Häusern um. Mein Haus glich genau seinen Nachbarn: Sie alle schrieen nach Farbe und strahlten
bürgerliche Ehrbarkeit aus.
«Ich war erst nicht ganz sicher, ob ich an der richtigen Haustür stand. Daddy sagte nur, das vierte Haus nach der Ecke.«
«Er fährt mich abends manchmal nach Hause.«
«Ja, das sagte er. «Sie ging auf den weißen Austin zu, der am Bordstein parkte. Mit dem Schlüssel in der Hand blieb sie unschlüssig stehen.»Was dagegen, wenn ich fahre?«
«Natürlich nicht.«
Sie lächelte zum erstenmal, seit sie gekommen war. Es war ein rasches, beinahe freundliches Lächeln. Sie schloß auf, stieg ein und öffnete mir von innen die andere Tür. Beim Einsteigen bemerkte ich das Schild mit dem großen L auf dem Rücksitz.
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