Die Schleusentore öffneten sich, die flußabwärts fahrenden Boote glitten aus der Kammer, und die >Flying Linnet< schob sich hinein. Das Wasser strömte durch die oberen Schleusentore herein, hob uns hoch, und zehn Minuten später glitten wir aus der Schleusenkammer auf die ruhige Wasserfläche hinaus, zwei Meter höher als zuvor.
«Die Themse hat fünfzig Schleusen«, erklärte Keeble.
«Lechlade erreicht man nur noch in einem Ruderboot. Diese oberste Schleuse liegt immerhin hundert Meter über Seehöhe.«
«Eine tolle Treppe«, bemerkte ich.
Er nickte.»Die Viktorianer waren schon ein intelligenter Haufen. Sie haben die Schleusen gebaut.«
Teller stand mit der aufgeschossenen Leine in der Hand auf dem Vordeck. Sein Mützenschild deutete wie der Schnabel eines aufmerksamen Vogels nach vorn. Ich beobachtete ihn. Keeble merkte die Richtung meines Blicks, gab mir aber keinen weiteren Hinweis.
Knapp eine halbe Meile flußaufwärts von der Schleuse legten wir an einer Wirtschaft eine offenbar vorbereitete Rastpause ein. Teller sprang mit der Leine an Land und hielt die Bordwand von der Betonmole fern, während wir darauf zutrieben. Er und Peter legten das Boot mit gekonnten Schifferknoten an, dann gingen wir alle von Bord.
Wir saßen auf bequemen Metallstühlen um einen Tisch herum, durch dessen Mitte ein Sonnenschirm gesteckt war. Lynnie und Peter bekamen Cola, für uns andere bestellte Keeble, ohne zu fragen, Scotch. Joan nippte mit vorgeschobenen Lippen und zugekniffenen Augen an ihrem Glas, als sei das Getränk für ein so zerbrechliches Persönchen viel zu stark, aber ich merkte, daß sie ihr Glas lange vor uns anderen leergetrunken hatte. Teller ließ sein Getränk minutenlang unberührt stehen, dann goß er es sich in ein paar gewaltigen Schlucken hinter die Binde. Keeble trank bedächtig. Er drehte sein Glas in der Hand und blinzelte durch den goldbraunen Whisky in die Sonne. Sie redeten vom Fluß, von früheren Ausflügen, vom Wetter. Links und rechts von uns saßen unter weiteren Sonnenschirmen Familienausflügler, die sich kaum von unserer Gruppe unterschieden. Sonntagmorgen-Drink, Sonntags-Lunch, Sonntagszeitung, Sonntagabend im Palladium — beschützte kleine Familien, geborgen in ihrer Routine, wohlmeinend und mehr oder weniger zufrieden. Selbst Keeble paßte in das Bild. Ich aber — ich stand abseits.
«Trinken Sie«, forderte mich Keeble auf.»Sie haben doch Ferien.«
Plötzlich betrachteten mich die anderen Familienmitglieder sehr aufmerksam. Ich hob gehorsam mein immer noch volles Glas, während die anderen Gläser alle schon leer waren. Irgendwie war es nicht richtig, so früh am Morgen schon Alkohol zu trinken. In meinem Unterbewußtsein läuteten Alarmglocken. Der Geschmack von Alkohol sagt mir schon zu, nur die Folgen kann ich mir nicht leisten. Alkohol verleitet einen dazu, sich auf sein Glück zu verlassen, und ich verlasse mich lieber auf einen klaren Kopf. Infolgedessen rühre ich das Zeug manchmal wochenlang nicht an, und an diesem Morgen war es mein erstes Glas Alkohol seit genau einem Monat.
Keeble beobachtete mich, wie ich den Whisky schluckte. Er lief mir leicht und vertraut wie ein lang vermißter Freund über die Lippen. Wie weitgehend ich mir jemals Ferien leisten konnte, das machte mir schon das Jackett über meinen Knien deutlich. Ich spürte das Pfund tödlichen Eisens in seinem Schulterhalfter. Und doch erschien es mir höchst unwahrscheinlich, daß ich es ausgerechnet auf der Themse brauchen würde. Als Teller eine zweite Runde bestellte, trank ich wieder aus. Dann war ich an der Reihe — eine dritte Runde.
Peter hielt bis zur dritten Cola mit, dann machte er sich mit seiner Kamera auf die Suche nach lohnenden Objekten. Ganz in der Nähe machte ein Bootsverleih wie in Henley schwunghafte Geschäfte. Vier von den besseren Kunden der Wirtschaft hatten einige Mühe, schwankend ins Boot zu steigen. Teller meinte leise lachend:»Welche Strafe steht eigentlich auf Paddeln unter Alkoholeinfluß?«
«Ein kühles Bad«, sagte Lynnie.»Idioten!«
Der Kahn schwankte bedenklich, als sie ablegten, aber keiner der vier Männer fiel ins Wasser. Er glitt zehn Meter flußaufwärts und krachte dann so heftig gegen den Anlegesteg der Wirtschaft, daß die vier Insassen übereinanderpurzelten. Ich versuchte mitzulachen und fühlte mich fremder als zuvor.
Wir tranken aus, stiegen wieder ein und passierten die nächste Schleuse: Harbour. Nun folgte eine Strecke grünen, unbewohnten Weidelandes. Hier legten wir zum Lunch an. Peter sprang immer wieder prustend ins Wasser, und Lynnie half ihrer Mutter in der Kabine beim Herrichten des Essens. Teller legte sich faul auf die Bank im Cockpit, Keeble entfaltete seine Sonntagszeitung, und ich fragte mich bekümmert, wann er wohl endlich zur Sache kommen würde.
Aber er war schon bei der Sache. Sie stand in der Zeitung.
«Lesen Sie das hier«, sagte er und deutete auf eine kleine Meldung auf einer der Innenseiten.
Ich las.
Es gibt immer noch keinen Hinweis auf den Verbleib des am vergangenen Dienstag im amerikanischen Bundesstaat Kentucky ausgebrochenen Chrysalis. Die Besorgnis um den Hengst im Werte von 500000 Pfund Sterling, Vater des diesjährigen Derbygewinners Moth, nimmt zu.
«Meinen Sie diesen Absatz?«fragte ich verwundert, aber er nickte heftig. Ich hatte tatsächlich den richtigen Abschnitt erwischt.
«Wußten Sie denn nichts davon?«fragte er.
«Daß Chrysalis verschwunden ist? Doch, ich denke schon. Es stand ja am Mittwoch in den Pressemeldungen.«
«Aber es hat Ihnen nichts gesagt, wie?«fragte Teller mit einer Spur beherrschter, kultivierter Bitterkeit in der Stimme.
«Nun.«
«Ich bin mit einem Achtel an dem Pferd beteiligt«, erklärte er.»200000 Dollar.«
«Puh!«machte ich.»Eine Menge Geld für ein achtel Pferd.«
«Schlimmer noch«, sagte er seufzend.»Den ganzen letzten Monat verhandle ich schon über den Verkauf. Ich konnte ein anderes Syndikat aus dem Feld schlagen, das ebenfalls bot. Und in dem Augenblick, wo der Hengst drüben landet, passiert das!«
«Tut mir leid«, murmelte ich höflich.
«Ich kann nicht verlangen, daß Sie das begreifen. «Er schüttelte entschuldigend den Kopf.»Mir geht’s nicht um das
Geld, sondern um das Pferd. Es ist unersetzlich.«
«Man wird es schon wiederfinden. «Das meinte ich zwar ehrlich, aber im Grunde genommen war es mir höchst gleichgültig.
«Da bin ich nicht so sicher«, sagte er.»Deshalb möchte ich gern, daß Sie hinfahren und sich mal umsehen.«
Fünf Sekunden lang zuckte keiner mit der Miene, am allerwenigsten ich. Dann wandte sich Teller an Keeble und schenkte ihm sein strahlendstes Lächeln.»Mit dem möchte ich nicht pokern«, sagte er.»Okay, ich schlucke alles, was Sie mir über seine Qualitäten gesagt haben.«
Ich warf Keeble einen Blick zu. Er hob die Augenbrauen und zuckte leicht verlegen mit der Schulter. Ich fragte mich, wie vollständig seine Aussage über mich wohl war.
Teller wandte sich wieder mir zu.»Sim und ich haben im zweiten Weltkrieg in derselben Branche gearbeitet.«
«Aha«, sagte ich. Nun war mir vieles klar.
«Für mich war’s allerdings nur ein Job für Kriegszeiten«, fuhr er fort.»Ich musterte 1947 ab und kehrte heim zu meinem lieben Papa. Ein paar Jahre später starb er und hinterließ mir seine Rennpferde sowie ein paar ersparte Pfennige. «Seine herrlichen Zähne blitzten mich an.
Ich wartete. Die Geschichte hatte ja erst begonnen.
Nach einer Weile fuhr er fort:»Ich bezahle Ihnen natürlich die Überfahrt, die Kosten und ein Honorar.«
«Ich bin doch kein Pferdefänger«, protestierte ich schwach.
«Ich kann mir schon denken, was Sie sonst jagen. «Er warf Keeble einen Blick zu.»Sim sagt, Sie hätten gerade Urlaub.«
Daran brauchte er mich nicht zu erinnern.
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