Mit einem Mal tauchte eine junge Frau aus den Bäumen auf und trat neben den ersten Indianer. Auch ihre Haut war bronzefarben und ihr Oberkörper unbekleidet. Nate gab sich große Mühe, sie nicht anzustarren. »Fa/o«, sagte sie.
Betont langsam sprechend erklärte Jevy, was sie wollten, und bat, mit dem Stammesoberhaupt sprechen zu dürfen. Die Frau dolmetschte seine Worte für die Männer, die dicht beieinander standen und mit finsteren Gesichtern aufeinander einredeten.
»Ein paar wollen uns gleich fressen«, sagte Jevy leise, »und die anderen wollen lieber bis morgen warten.«
»Sehr witzig.«
Nach einer Weile teilten die Männer der Frau das Ergebnis ihrer Beratung mit. Sie erklärte den Eindringlingen, dass sie am Fluss warten sollten, bis die Nachricht von ihrer Ankunft weitergemeldet wurde. Nate paßte das glänzend, während Jevy diese Mitteilung eher zu beunruhigen schien. Er fragte, ob eine Missionarin bei den Indianern lebe.
Ihr müsst warten, sagte sie.
Die Indianer verschwanden unter den Bäumen.
»Was meinen Sie?« fragte Nate, als sie fort waren. Weder er noch Jevy hatten sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle gerührt. Sie standen im knöchelhohen Gras und sahen zu dem dichten Wald hinüber. Nate war überzeugt, dass man sie von dort aus beobachtete.
»Sie stecken sich leicht mit Krankheiten an, wenn sie mit Fremden in Berührung kommen«, erklärte Jevy. »Deswegen sind sie so vorsichtig.«
»Ich fasse schon keinen an.«
Sie zogen sich zum Boot zurück, wo sich Jevy damit beschäftigte, die Zündkerzen zu reinigen. Nate zog beide Hemden aus und kontrollierte den Inhalt der behelfsmäßig wasserdicht gemachten Umhüllung. Die Papiere waren noch trocken.
»Sind das Papiere für die Frau?« fragte Jevy.
»Ja.«
»Was ist mit ihr passiert?«
Die strengen Vorschriften, die für den Umgang mit vertraulichen Angelegenheiten von Mandanten galten, schienen in jenem Augenblick nicht so wichtig zu sein. Zwar waren sie einem Anwalt heilig, aber wer in einem Boot tief im Pantanal saß, ohne dass ein anderer Amerikaner in der Nähe war, konnte sich auch ein wenig über die
Vorschriften hinwegsetzen. Was konnte es schaden, wenn Nate ein bißchen plauderte? Wem könnte Jevy diese Dinge schon weitererzählen?
Josh hatte Valdir Ruiz strikte Anweisung erteilt, Jevy nur zu sagen, dass es sich um eine wichtige Angelegenheit handelte, die es erforderlich machte, Rachel Lane zu finden.
»Ihr Vater ist vor ein paar Wochen gestorben. Er hat ihr einen Haufen Geld hinterlassen.«
»Wieviel?« ....
»Mehrere Milliarden.«
»Milliarden?«
»Ja.«
»Dann war er wohl sehr reich.«
»Ja, das war er.«
»Hatte er noch mehr Kinder?«
»Ich glaube, sechs.«
»Hat er denen auch mehrere Milliarden hinterlassen?«
»Nein. Sehr viel weniger.«
»Und warum ihr soviel?«
»Das weiß niemand. Es kam überraschend.«
»Weiß sie, dass ihr Vater tot ist?«
»Nein.«
»Hat sie ihren Vater geliebt?«
»Das bezweifle ich. Sie ist eine uneheliche Tochter. Es sieht ganz so aus, als hätte sie versucht, vor ihm und allem anderen davonzulaufen. Das kann man doch sagen, oder?« Nate wies bei diesen Worten auf das sie umgebende Pantanal.
»Ja. Das hier ist ein glänzendes Versteck. Hat er bei seinem Tod gewusst, wo sie sich befindet?«
»Nicht genau. Er hat nur gewusst, dass sie als Missionarin irgendwo hier in der Gegend bei den Indianern arbeitet.«
Ohne auf die Zündkerze, die er in der Hand hielt, zu achten, nahm Jevy die Neuigkeit in sich auf. Er hatte viele Fragen. Die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses wurde gravierender.
»Welchen Grund hätte er haben können, einem Kind, das ihn nicht geliebt hat, so viel Geld hinterlassen?« »Vielleicht war er verrückt. Er ist von einem Hochhaus gesprungen.«
Das war mehr, als Jevy auf einmal verdauen konnte. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er, tief in Gedanken versunken, auf den Fluss hinaus.
Die Indianer gehörten zum Stamm der Guato. Sie waren schon lange in dieser Gegend ansässig, lebten wie ihre Vorfahren und mieden Kontakte mit Außenstehenden. Sie fischten in den Flüssen, jagten mit Pfeil und Bogen und bauten auf kleinen Stücken Land Gemüse an.
Sie schienen sich Zeit zu lassen. Nach einer Stunde stieg Jevy Rauch in die Nase. Er kletterte auf einen Baum in der Nähe des Bootes, wo er aus gut zehn Metern Höhe die Dächer ihrer Hütten erkennen konnte. Er forderte Nate auf, gleichfalls nach oben zu kommen.
Nate war seit vierzig Jahren auf keinen Baum gestiegen, aber er hatte gerade nichts anderes zu tun. Er war weniger behende als Jevy und machte auf einem nicht besonders dicken Ast halt, wobei er den Stamm mit einem Arm umschlang.
Sie sahen drei Hütten, deren Dächer aus dicken, sauber aufgeschichteten Strohlagen bestanden. Der Rauch stieg zwischen zwei der Hütten von einer Stelle auf, die ihren Blicken verborgen war.
Waren sie möglicherweise Rachel Lane schon so nahe? Befand sie sich etwa dort unten, hörte zu, was die Indianer berichteten, und überlegte, wie sie sich verhalten sollte? Würde sie einen Krieger schicken, um die beiden Besucher abzuholen, oder zu ihrer Begrüßung selbst durch die Bäume herbeikommen?
»Es ist nur eine kleine Ansiedlung«, sagte Nate und bemühte sich, keine Bewegung zu machen.
»Vielleicht gibt es noch mehr Hütten.«......
»Was tun die Ihrer Ansicht nach gerade?«
»Sie reden miteinander.«
»Ich spreche das nur ungern an, aber wir müssen allmählich an Aufbruch denken. Wir sind vor achteinhalb Stunden losgefahren. Ich würde Welly gern wiedersehen, bevor es dunkel wird.«
»Kein Problem. Auf dem Rückweg fahren wir mit der Strömung. Außerdem kenne ich jetzt den Weg. Da geht es viel schneller. «
»Sorgen machen Sie sich keine?«
Jevy schüttelte den Kopf, als hätte er nie daran gedacht, was es bedeuten könnte, den Cabixa im Dunkeln hinabzufahren. Nate hatte das schon getan. Besonders große Sorge machten ihm die beiden ausgedehnten Seen, die sie
durchquert hatten, mit ihren vielen Zuflüssen, die schon tagsüber völlig gleich ausgesehen hatten.
Sein Plan war einfach. Er wollte Ms. Lane guten Tag sagen, ihr kurz den Hintergrund berichten, die erforderlichen juristischen Erläuterungen abgeben, ihr die Papiere zeigen, ihre wichtigsten Fragen beantworten, sie unterschreiben lassen, ihr danken und die Zusammenkunft so rasch wie möglich beenden. Die fortgeschrittene Tageszeit, das Stottern des Außenbordmotors und die Rückfahrt zur Santa Loura bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Wahrscheinlich würde die Frau reden wollen, aber vielleicht ja auch nicht. Vielleicht würde sie kaum etwas sagen, lediglich die Eindringlinge auffordern, zu verschwinden und nie wiederzukommen.
Sie kletterten vom Baum herunter. Kaum hatte Nate es sich zu einem Schläfchen im Boot gemütlich gemacht, als Jevy die Indianer kommen sah. Er sagte etwas, zeigte zum Waldrand hinüber, und Nate sah dorthin.
Hinter ihrem Führer, dem ältesten der Guato, den er bisher gesehen hatte, näherten sie sich im Gänsemarsch dem Fluss. Der Mann war untersetzt, wohlbeleibt und hielt etwas in der Hand, das wie ein langer Stock außah. Eine gefährliche Waffe schien es nicht zu sein. Von der Spitze hingen hübsche Federn herab, und Nate vermutete, dass es sich einfach um eine Art Zeremonialspeer handelte.
Der Anführer fasste die beiden Eindringlinge kurz ins Auge und richtete seine Worte an Jevy.
»Was wollt ihr hier?« fragte er auf portugiesisch. Sein Gesichtsausdruck war nicht freundlich, aber er wirkte auch nicht feindselig. Nate musterte aufmerksam den Speer.
»Wir sind auf der Suche nach einer amerikanischen Missionarin«, erklärte Jevy.
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